Kamele zählen

Marokkanische Landkarten weisen die Westsahara als selbstverständlichen Teil Marokkos aus. Nur die Präsenz der UN erinnert daran, dass hier noch nichts geklärt ist. UN-Mission Minurso: Selbsterfahrung eines Beobachtungsoffiziers.

Es blieb von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt: Im Februar dieses Jahres hat UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon das Flüchtlingslager im algerischen Tindouf besucht und dabei die Westsahara als „besetztes Gebiet“ bezeichnet. Daraufhin hat Marokko, das seit den 1980er-Jahren den größten Teil der Westsahara besetzt hält, den UN-Generalsekretär zu einer Rücknahme seiner Äußerung aufgefordert. Als er dies nicht tat, verwies Marokko 83 UN-Bedienstete, das ist fast das gesamte zivile Personal der UN-Mission Minurso, als unerwünscht des Landes. Innerhalb von drei Tagen mussten sie packen und wurden vorerst auf die Kanarischen Inseln ausgeflogen. Monate später durften 25 von ihnen an ihre Arbeitsstätte im marokkanisch besetzten Laayoune zurückkehren. Die anderen warten derzeit noch darauf in ihren Heimatländern. Just im 25. Jahr des Bestehens von Minurso wollte Marokko offenbar die ihm lästige UN-Mission abschütteln.

Deren Installierung waren jahrelange kriegerische Auseinandersetzungen vorangegangen. Die Westsahara, gegenüber den Kanarischen Inseln in Nordwestafrika gelegen, ein Streifen an der Küste zwischen Marokko und Mauretanien, war spanische Kolonie, unter Franco spanische Provinz gewesen. Immer wieder hatten die Vereinten Nationen den Rückzug Spaniens gefordert. 1973 bildete sich die Polisario, die Volksbefreiungsfront zur Befreiung der Westsahara, und forderte das Selbstbestimmungsrecht dieses Landstriches. Tatsächlich zog sich Spanien aus der Region zurück, übergab sie aber Marokko und Mauretanien. Marokkos König Hassan II. initiierte einen augenfälligen Besitzanspruch: Er rief seine Landsleute zum „grünen Marsch“ auf. 350.000 Marokkaner setzten sich daraufhin südwärts in Bewegung, um zu demonstrieren, dass die Westsahara Teil ihres Landes sei. Es folgten die Militärs. Als 1976 die Polisario die international nur teilweise anerkannte „Demokratische Arabische Republik Sahara“ (DARS) ausrief, tobte bereits der Krieg.

Die Befreiungsfront kämpfte jahrelang gegen Mauretanien und Marokko. Nach einem Machtwechsel in Mauretanien verzichtete das Land auf seine Ansprüche und schloss Frieden mit der Polisario. Die Auseinandersetzung mit Marokko aber wurde zu einem der afrikanischen Stellvertreterkriege: Marokko wurde vom Westen unterstützt, die Polisario von der Sowjetunion.

Zäh kämpfte die mit der Wüste vertraute Guerilla gegen den Goliath aus dem Norden. Dieser errichtete in den 1980er-Jahren einen Sandwall von Norden nach Süden, den an die 2700 Kilometer langen Berm. Dabei handelt es sich um eine Art „Berliner Mauer“ aus meterhoch aufgeworfenem Sand und Steinen, gespickt mit Stacheldraht und Minen. Dahinter verschanzen sich bis heute diemarokkanischen Truppen und verteidigen den von ihnen besetzten Streifen zwischen Atlantik und Berm.

Die Kämpfe aber hielten an, und nach zahlreichen Bemühungen erreichten die Vereinten Nationen, dass beide Streitparteien dem Einsatz einer UN-Mission im umstrittenen Gebiet zustimmten. 1991, genau vor 25 Jahren, wurde Minurso (Mission des Nations Unies pour l'organisation d'un référendum au Sahara occidental) geschaffen. Die Aufgabe der Mission ist schon im Namen enthalten: Eine Volksabstimmung sollte über die Zukunft des Landstrichs entscheiden, in dem heute 350.000 marokkanische Siedler und 150.000 Saharaouis, die ursprünglichen Bewohner, zumeist Beduinen, leben. Doch in allden Jahren haben sich die beiden Seiten auf keinen Abstimmungsmodus einigen können. Während des Krieges waren die meisten Saharaouis ins nahe Algerien geflohen. Im Flüchtlingslager Tindouf warten dort noch heute 155.000 Menschen auf ihre Rückkehr. In Tindouf hat Ban Ki-Moon Anfang dieses Jahres die verhängnisvolle Wahrheit ausgesprochen, die Minurso verwaltungsmäßig enthauptet hat.

Für Marokko ist Minurso die letzte Erinnerung daran, dass es die Westsahara unrechtmäßig in Besitz hat. Völkerrechtlich gilt sie als letztes noch nicht entkolonialisiertes Gebiet der Erde. Doch in all den Jahren haben die Marokkaner Fakten geschaffen. Sie haben die verschlafene Hauptstadt der Westsahara, Laayoune, das einstige Kolonialnest El Aaiún, ausgebaut und Siedler mit finanziellen Wohltaten ins Land geholt, haben Straßen asphaltiert und versuchen, das idyllische Dhakla an der Spitze einer Landzunge zum Fremdenverkehrsort auszubauen. Hier hat einst der Schriftsteller und Pilot Antoine de Saint-Exupéry auf seinen Nord-Süd-Flügen mit dem Postflugzeug regelmäßig Station gemacht. Irgendwann soll die geplante Hochgeschwindigkeitsbahn zwischen der Hauptstadt Rabat und Marrakesch auch Laayoune erreichen.

Marokko hat mit dem Streifen zwischen Meer und Berm alles, was es wollte: Südlich von Laayoune verfügt es bei Bou Craa über die größten Phosphatvorkommen der Erde, und seit die Marokkaner sich des Fischreichtums vor der Küste bemächtigt haben, geht es den Kollegen auf den Kanarischen Inseln schlecht. Das Gebiet jenseits des Berm hingegen besteht nur aus Wüste und ein paar in die Jahre gekommenen Polisario-Kämpfern, denen zudem zu Beginn der 1990er-Jahre der militärische Sponsor Sowjetunion abhanden gekommen ist.

Drei Dinge sind in der marokkanischen Öffentlichkeit tabu, darüber darf auch nicht in den Medien diskutiert werden: der König, die Religion und die Westsahara. Marokko kann auf Zeit spielen. Marokkanische Landkarten weisen die Westsahara als selbstverständlichen Teil des Staates aus. Irgendwann ist das besetzte Gebiet so marokkanisch und die Infrastruktur so gut ausgebaut und mit dem Norden verbunden, dass niemand mehrauf die Idee kommen würde, das Gebiet dem Land wegzunehmen. Wäre da nicht die Präsenz der UN wie ein Stachel im Fleisch, der die Welt weiterhin daran erinnert, dass hier noch nichts geklärt ist. So die Welt Notiz von dieser Mission nimmt.

Alljährlich kostet sie die Vereinten Nationen 56 Millionen Dollar. Neben dem zivilen Personal in Laayoune gehören auch noch 245 Militärs dazu, unbewaffnete Offiziere aus ungefähr 30 Ländern der Welt, verstreut über neun kleine Camps, sogenannte Teamsites, sowohl auf marokkanisch besetzter wie auf Polisario-Seite. Ihre Aufgabe ist es, die Abhaltung des Referendums zu überwachen und die Einhaltung des Waffenstillstands zu beobachten. Da Ersteres nicht und nicht stattfinden will, beschränkt sich der Auftrag der Minurso-Soldaten auf das Beobachten. Seit nunmehr 25 Jahren fahren sie von ihren Teamsites aus Tag für Tag auf Patrouille. Weil es aber auf diesen Fahrten über Hunderte Kilometer Sandpisten wenig zu beobachten gibt, haben die für rasch wachsende Selbstverwaltung bekannten UN sich zusätzliche Aufgaben gegeben: Den Patrouillen wurde aufgetragen, die ihnen begegnenden Kamel-, Schaf- und Ziegenherden zu lokalisieren und zu zählen. Der Beifahrer hat auf seinem am Klemmbrett befestigten Patrouillenbericht die Koordinaten, die ungefähre Stärke der Herde und deren Begleitung mit oder ohne Hirten festzuhalten und dies nach Rückkehr ins Camp an die Zentrale in Laayoune zu mailen.

Aus Sicherheitsgründen rücken immer zwei Autos zu einer Patrouille aus, jedes mit Fahrer und Beifahrer besetzt. Im Lauf eines Monats sind bestimmte Routen nach ausgeklügeltem Einsatzplan abzufahren. Meist ist das Ziel ein aus UN-blau-besprühten Steinen markierter Punkt mitten in der Wüste, wo man für eine kurze Pause anhält, gemeinsam die Kühlbox auspackt, Brote, Joghurt und Äpfel verspeist, und dann den Rückweg antritt.

Es ist tägliche Routine und doch nicht ungefährlich. Die Westsahara gilt als vermint. Je näher am Berm, umso eher sind noch Kriegsrelikte anzutreffen: ausgebrannte Lkws,Teile abgestürzter Flugzeuge. Man hat beharrlich in der Reifenspur zu bleiben, nach GPS zu navigieren, wenn die Strecke ungewiss zu werden droht, und im Zweifelsfall umzukehren. Sandstürme können die Fahrspur zuwehen. Die wenige Tage dauernde Regenzeit im Herbst bringt nicht nur für kurze Zeit die Wüste zum Blühen, sie kann auch die Camps unter Wasser setzen. Plötzlich auftretende Wasserläufe können dann Minen in die Fahrspur schwemmen. Für die in den Teamsites eingesetzten Soldaten ist die Mission eine physische und psychische Herausforderung: Im Sommer klettert die Temperatur auf bis zu 50 Grad, die nächste Ansiedlung ist oft Hunderte Kilometer entfernt, es gibt keine festen Straßen. Die Nabelschnur zur Zivilisation ist der zweimal pro Woche eintreffende UN-Hubschrauber, der Verpflegung, auch technisches Gerät oder den Arzt bringt.

Dennoch gaukelt die Teamsite eine Oase des Wohlstands vor: Aus dem begehbaren Kühlschrank kann man sich zu jeder Tageszeit reichlich Nahrung, vom Müsli bis zu exotischen Früchten, holen. Der Fernsehapparat im Aufenthaltsraum versorgt die Belegschaft mit Dutzenden Sendern, so der Empfang klappt. Klimaanlagen in den Containerngarantieren angenehme Zimmertemperatur. All das ist aber nur mittels der Tag und Nacht brummenden Dieselgeneratoren möglich. Siesind das sensible Herz jedes Camps. Fallen sie aus, bricht das Leben hinter den weißen Mäuerchen zusammen.

Dieses ist ohnehin ein fragiles Multikulti-Experiment in der Nussschale. Ärmere Länder stehen gegen reiche, Offiziere muslimischer Staaten bilden eine erkennbare Bruderschaft gegenüber den individuell auftretendenVertretern der „christlichen Staaten“ Europas. Offiziere aus Entwicklungsländern, wo diese hohes Ansehen in der Gesellschaft genießen, sind es gewohnt, dass ihnen Diener die manuelle Arbeit abnehmen. Sie reagieren mit Unverständnis, wenn sie nach einer Patrouilleihr Fahrzeug reinigen sollen.

Dabei wird die bunte Truppe aus unterschiedlichen Uniformen weder von der Polisario noch von Marokko richtig ernst genommen. Immerhin: Die fremden Soldaten werden respektvoll behandelt, wenn sie auf ihren Patrouillen auch deren Kasernen zu visitieren haben. Der Alltag der Beobachtungsoffiziere verläuft auf der Polisario-Seite eintöniger als auf der marokkanisch besetzten: Die täglichen Ausfahrten bestehen aus Visiten von Kasernen oder Beduinenzelten und bestimmten Routen nach starrem Plan. Aufgrund der von den Weiten der Sahara ausgehenden Terrorgefahr werden keine Nachtpatrouillen durchgeführt. Das macht man auf marokkanischer Seite, wo der Berm das Einfließen unerwünschter Unruhestifter absichert. Dort fahren die Offiziere auch nachts aus, biwakieren im Freien und bewundern den Sternenhimmel. Man unterhält sich am Feuer, auf dem das Abendessen brät, über den nächsten Urlaub, das wichtigste Gesprächsthema unter den UN-Offizieren, erzählt aus der eigenen Heimat und streitet über die Einteilung für die nächsten Patrouillen. Und hat im täglichen Betrieb völlig aus den Augen verloren, warum man hier ist: eine Volksabstimmung vorzubereiten, damit eine Region dieser Erde selbstbestimmt über ihre Zukunft abstimmen kann. ■


Stefan May, geboren 1961 in Wien. Dr. jur. Oberst d. R. des Österreichischen Bundesheeres. War bei „Presse“ und ORF, heute freier Journalist in Berlin. Bücher: zuletzt „Heißer Sand. UN-Einsatz in der Westsahara“ (Der Verlag, Wien).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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