Erscheine, Welt!

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Vor 120 Jahren in die Welt gepresst, vor 50 Jahren (am Tag vor Heiligabend) sie verlassen habend. Der Doderer im Doderer-Jahr. Ein Apropos, mehr als ein Apropos.

Als ich Student der Jurisprudenzund also jung war, konnten mich Doderers „Merowinger“, insbesondere Stellen wie die folgende – über die explosiven Wutausbrüchedes klein gewachsenen Herrn von Bartenbruch und die Therapie seines Psychiaters Professor Horn – ungeheuer amüsieren: Beispiellose Wut, grässlicher Grimm brachen als gelblich-grün aufleuchtender Strahl aus den Augen des Kleinen: ja, die Wut stand wie in bebenden Türmen ob seinem Haupte. Er schritt über den Treppenabsatz auf Horns Türe zu, indem er die Knie weit höher hob, als zum Gehen erforderlich gewesen wäre, er ging im Hahnentritt . . . Der Professor, als er des Kleinen ansichtig wurde – welcher den Namen eines Freiherrn Childerich von Bartenbruch trug und Childerich III. genannt wurde, zum Unterschiede von seinem Vater und Großvater, die ebenso geheißen – der Professor erkannte also sogleich die Gefährlichkeit des Zustandes, in welchem sich dieser ihm schon lange bekannte Patient heute befand . . . Jedoch der Professor dosierte meist richtig und rechtzeitig. Seine flachen Hände gebrauchend, die ungefähr die Größe von Suppentellern habenmochten, begann er sofort,dem Herrn von Bartenbruch derart kräftige Ohrfeigenpaare zu applizieren, dass der Kleine bald mit rotem Gesicht im Ordinationszimmer nur soherumtaumelte: nach dem sechsten Ohrfeigenpaar konnte schon die Nasenzange gesetzt und der Baron auf Trab gebracht werden.

Noch mehr amüsierte mich dann diesummierende Schlussszene des Romans – nach etwa 300 Seiten: „Verzeihen Sie, Doctor, aber das Ganze ist doch ein Mordsblödsinn.“ –„Ja freilich, freilich Blödsinn!“, rief der Doctor Döblinger, beglückt, von diesem sehr geschätzten Leser endlich und richtig verstanden worden zu sein. „Wie denn anders?! Und was dennsonst als Blödsinn?! Alles Unsinn –“

Ich wusste damals so gut wie nichts von Heimito von Doderer, von seinem umfangreichen Werk, von seiner Person – es hätte mich auch nicht interessiert. Was zog mich also an? Es war wohl der derbe Humor, das hirnrissig Groteske, dabei aber pompös und gestelzt Daherkommende, das Verstaubte und Bürgerlich-Akkurate in toller Übertreibung: Was ich da also las und lesend genoss, war die zum Lachen reizende Präsentation einer Welt, die ich auch im Ernst lächerlich gefunden hätte, unter kunstvoller Benutzung ausgerechnet der Mittel, die, meinem Sinn nach, gerade das Produkt, ja die Essenz ebenjener Welt waren. Inwieweit die gesuchten Metaphern und andere stilistische Feinheiten des Autors ihm eigentlich oder bloß ironisch aufgesetzt waren, solche Fragen beschäftigten mich damals nicht.

In ähnlichem Verhältnis stand ich im Übrigen zu einem zweiten Werk des Autors, „Dieerleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal“ aus dem Jahr 1952. Auch aus diesem kleinen Roman konnte ich flüssig und in aller Ausführlichkeit zitieren. Auch dieses Werk nahm ich undeutlich wahr als Ausdruck oder Abdruck einer versunkenen oder zumindest im Versinken begriffenen Welt, die ich, ohne mir darüber allerdings ganz klar zusein, von Herzen zum Teufel gewünscht hätte, hätte sie denn noch Herrschaftsansprüche stellen können. Würde damals mir einererklärt haben, was ich viel später der fundierten Doderer-Biografie von Wolfgang Fleischer entnehmen sollte, dass nämlich Doderer mit seinem erzählerischen Instrumentarium („skurrile Pedanterie und kauzige Ironie, kombiniert mit sprachlicher Altertümeleisamt kuriosem Latein“, ich zitiere Fleischer) „eine intime Atmosphäre zwischen einem gescheiten Autor und seinen einsichtsvollen Lesern schaffen wollte“, ich hätte mir bloß an den Kopf gegriffen.

Doderer und seinem Werk sollte ich erst viel später wieder begegnen – der erste Kontakt war zu der Zeit bei mir ganz in Vergessenheit geraten und, wie es nun aussieht, auch gänzlich folgenlos geblieben. Dieses zweite Mal war es nicht einmal Doderers Werk selbst, auf das ich stieß, auf dem Umweg komplexer Anspielungen begegnete ich dem Autor gleichsam nur wie von fern, aus der Distanz, im Werk eines anderen: „Die Verbesserung von Mitteleuropa“ hieß der Text, verfasst von Oswald Wiener, publiziert 1969. Es gibt da einen Abschnitt, der sich betitelt „Purim, ein Fest“. Der Abschnitt ist nicht nur Doderer ausdrücklich gewidmet, unter den Titel ist als eine Art Motto noch ein Zitat von Karl Kraus gesetzt, den „Letzten Tagen der Menschheit“ entnommen: Fallota: Hast nix vom Doderer ghört? Der hat dir ein Mordsglück. – Beinsteller: Ja, der war dir immer ein Feschak. – Fallota: Ein Feschak is er, das is wahr. Aber ein Tachinierer, ujeh!

Nun ist der „Doderer“, den Kraus da auftreten lässt, wohl nicht der hier in Rede stehende Heimito; wenn wir Doderer glauben wollen, handelt es sich um seinen älteren Bruder. Oswald Wiener nützt jedenfalls die Namensgleichheit, um auf eine enge und tiefere Verbindung zur Person und zum Werk Heimito von Doderers en passant hinzuweisen: Einerseits war Doderer mit den Mitgliedern der Wiener Gruppe bekannt, insbesondere meinen Altfreund H. C. Artmann schätzteer sehr, darüber hinaus verfasste er, der berühmte Romancier, ein verständiges, ja preisendes Vorwort zum Sammelband der Gruppe mit dem Titel „hosn rosn baa“. Andererseits, und das ist die wohl spannendere Verbindung zwischen Wiener und Doderer, könnte man „Purim, ein Fest“ lesen als ausschmückenden Aufgriff, als radikale Aktualisierung eines Wortes von Childerich III. an seine Knechte, wie gegeben auf der Frontispiz-Seite der „Merowinger“, das da lautet:„Verprügelt mir nicht Jeden! Dafür aber die Richtigen saftig.“

Wer bekommt in „Purim, ein Fest“ nicht aller sein Fett ab? Es handelt sich da, wie Wiener schreibt, „um eines der häufigen, unfrohen feste der avantgarde, welche der intelligenz nicht so sehr zur bildung eines urteils dienen sollen als vielmehr zur herablassendenabgabe ihres stets schon vorhandenen an weniger günstig ausgestattete“: 9 und 2könnten im vorbeigehen gleich einen mitnehmen, der aussieht wie ein schriftsteller. dem werden mit einer bierflasche die jochbogen zerdroschen. – einem, der aussieht wie der bildhauer wotruba, wird ohne ersichtlichengrund in den bauch getreten, und zwar immerwieder, und immer von anderen schauspielern. – 17 und 12 suchen einen, der aussieht wie ein richter, ein so ein unabhängiger, wie man sagt. nach anfänglichem suchen finden sie so einen, und 22 haut ihm eine flak herunter (es muss blut kommen). – 9 sucht jemanden, der aussieht wie ein richtiges hausmütterchen, findet jemanden, die vielleicht aussieht wie eine österreichische dichterin, und schlägt ihr demgemäß die in position gehievtemolkerei herunter. sollten jedoch folgende gespenster unter den anwesenden ausgemacht werden: chefredakteur h., miss austria 19 . ., oder manager r., ing. w., präs. h., der schah von persien, blonde hünen, sitarspieler, jazzer, physiker, schnorrer, goscherte weiber,dichter, epileptiker, konstrukteure und designer, architekten, volvofahrer, bayern, provinzler, pariser, surrealisten, studenten und ähnliches – so soll der regisseur zum walkie-talkie greifen und meldung erstatten, ich komme dann sofort, hol mich der teufel, und hau sie in die goschen, hau alle in die goschen wie ein maniak, und hol mich der teufel, das wird der größte intellektuelle genuss meines lebens sein.

Die deftigen Sarkasmen des Oswald Wiener konnten seinerzeit mit meinem kaum eingeschränkten und kaum hinterfragten Applaus rechnen. Elitäre Gesinnung, radikale Gestion und Individualanarchismus frei nach Stirner waren in der damaligen gesellschaftlichen Situation das Rezept der Stunde. Ein vom kaum übertauchten Nazitum sowie von verwesenden katholischen Gesinnungsresten geprägtes Bürgertum samt aufsteigendem Kleinbürgertum, große Teile der Sozialdemokratie inbegriffen, stand jeder Art von Avantgarde oder, sagen wir es unverfänglicher, jedem innovativen Geist ablehnend bis feindselig gegenüber. Der Ton zwischen den Fronten war rau. Man denke auch an Thomas Bernhard, dessen Übertreibungskunst ja auch in diesem Klima gedieh. Das im Grund Apolitische solcher und aller Rundumschläge fiel dabei kaum auf.

Wie hängt diese Verfasstheit nun aber mit Doderer zusammen? In seinen Tagebüchern aus den Dreißigerjahren taucht der Begriff morbus politicus auf: Die Politisierung des Menschen wird dort als Krankheit aufgefasst. Wohl verständlich bei jemandem, der gerade die Infektion mit dem Nazitum halbwegs überwunden hatte und erkannte, dass es Realitäten gibt, die tiefer gründen als das Politische. Die elitäre Gesinnung, weil dem Anheimfall an den Nazismus vorgeordnet und aus anderer Wurzel stammend, war freilich geblieben. Es wäre bestimmt eine spannende und lohnende Aufgabe für Kultursoziologen, dem Elitären und politikfern Radikalen in Kunst und Kunstbetrieb der Zweiten Republik nachzuspüren. Doderer würde bestimmt als einer der Gründerväter figurieren.

„Die Merowinger“ erschienen 1962. Es gibt da ein Kapitel, „Timurisation der Familie Kronzucker“, darin der von langer Hand geplante Überfall auf eine Familie dieses Namens geschildert wird, der – spaßigerweise – darin gipfelt und sein Ziel findet, dass die gesamte Wohnungseinrichtung samt allem persönlichem Kram sachgemäß verpackt und auf den Dachboden verbracht wird. Sonst weiter nichts. Trotz des spaßigen Tones erinnert die sogenannte Timurisation fatal an die überfallsartigen Abholaktionen der Gestapo, der Familienname Kronzucker, ausgerechnet, erscheint im österreichisch-wienerischen Kontext zumindest als Geschmacklosigkeit. Handelt es sich hier um eine, tja, Fehlleistung des Autors,die freilich vom p. t. Publikum (mich inklusive) damals keineswegs als solche erkannt, vielmehr als eben der Spaß goutiert wurde, als der er offenbar gemeint war? Bei Fleischerheißt es: „Während Doderer sicher nicht befürwortete, dass die Nazis schließlich mit einer kalt ausgeklügelten Vernichtungsmaschinerie gegen die Juden vorgingen, blieb ihm, wie er im Tagebuch festhielt, diese ,Rasse‘ doch der Inbegriff der ,geminderten Wirklichkeit‘, gewissermaßen am Gegenpol des Schriftstellers in seinem Sinn angesiedelt.“ Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Doderer wohl auch jüdische Bekannte gewarnt hat; in einem Fall scheint er interveniert und geholfen zu haben: Kann solche Strategie, solches Verhalten als Ausdruck kollektiver Befindlichkeit gedeutet werden, wie sie bis gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts, ja vielleicht bis in die Gegenwart hierzulande besteht und fortwirkt?

Während der Niederschrift dieser Bemerkungen fällt mir mit einem Mal ein, dass ich als junger Mensch und schreibender Anfänger, mit 18, 19 Jahren, einmal an Doderer geschrieben haben muss: weswegen? Erantwortete mir nicht. Allerdings setzte sich sein Sekretär, ebenjener Wolfgang Fleischer, sein späterer Biograf, mit mir in Verbindung. Wir sahen einander ein paar Mal. Fleischer widmete mir, wie mir jetzt mit der seltsamen Deutlichkeit solch lang abgesunkener, plötzlich auftauchender Tatsächlichkeiten beikommt, ein beim Residenz Verlag damals gerade erschienenes Büchlein mit der kryptischen Widmung:„Für P. R., der viel bessere Bücher schreiben soll.“

Jedenfalls, ich las später alle Romane Doderers, ich las das Gesamtwerk, wurde dadurch vorübergehend zum Doderer-Kenner, dabei liebevoll unterstützt von einem Währinger Buchhändler, der sich im Lauf meiner ausufernden Doderer-Bestellungenals totaler Doderer-Fan oder -Freak offenbarte. Es kam da, ich muss es gestehen, neben der Freude an den neuen Lektüren kaum zu künstlerischen Aufschlüssen. Bis ich dann auf Doderers letzten – und unfertigen – Roman stieß: „Der Grenzwald“, insbesondere aber auf die den meisten Ausgaben angehängten „Tagebuchaufzeichnungen zu Roman No. 7/II“.

Vorweg muss allerdings etliches gesagt sein: Die Vorstellung Doderers, dass der Schriftsteller einen geradezu privilegierten Zugang zu Wahrheit und Wirklichkeit habe, ist für mich, na, wie soll ich schon sagen: Das ganze mystagogische Gebräu, das er, theoretisierend, um sein Dichten und die Kunst überhaupt zusammenrührt, ist mir fremd, unsympathisch, ja lächerlich in seiner bildungsbürgerlichen Überheblichkeit. Andererseits wieder rührt es mich, etwa bei der Lektüre seiner „Tangenten“ genannten Aufzeichnungen, einem Mann zuzusehen, der sich tief einsam abmüht, weitab von den Diskursen, die gleichzeitig in der Welt draußen laufen, bestrebt, sich einen Nenner auf die grundlegenden Fragen der Dichtkunst, ja des In-der-Welt-Seins überhaupt zu machen.

Da er etwa am 31. Jänner 1945 aufschreibt:Wenn ich über den Grund-Irrtum meines Lebens kurz aussagen sollte: ich würde schreiben, er habe darin bestanden, dass ich dem bewussten Denken eine Elongatur vindizierte, die es nicht hat. Anders: ich erkannte nicht den indirekten Weg, der vom bewussten Denken ausgeht und dessen auf solchem Wege hohen Wert . . . – so hat er,Doderer, meine Sympathie, allerdings mitdem Zusatz: Warum denn so geschwollen, mein Herr? Sag's doch einfach heraus: Ohne Fühlen kann man nichts leisten.

Doderer bemüht sich ganz abseits der Moderne. Außer seinem Säulenheiligen Albert Paris Gütersloh kommt kaum ein Zeitgenosse als Referenzgröße vor. Doderer monologisiert, er diskutiert und rechtet mit sich selbst, er macht sich,könnte man in Verkürzungsagen, so gut wie alles in Eigenbau, eine sonderbare, oft schrullige Begriffssprache inklusive: der typische Eigenbrötler. Über das Denken schreibt er am 28. Jänner 1945: Denken heißt: einen Punkt außerhalb des Zweckmäßigen so ausdauernd undkonsolidiert beziehen, dassder Welt Zeit genug bleibt, ihr nun ganz verwandeltes Bild bis zum Hervortreiben neuer Gegensatzpaare zu detaillieren. Über den Irrtum am gleichen Tag: Einen Irrtum kann man als Schlüssel und heuristisches Mittel eigenschaftlich besitzen und erkennen wie eine Wahrheit.

Beide Eintragungen sagen mir etwas, ich denke so ähnlich, nur eben von ganz anderer Grundlage her und deshalb mit anderen Folgerungen: Der Irrtum ist für mich schlicht eine Möglichkeit, auf etwas draufzukommen, etwas zu lernen. Der Irrtum ist produktiv. Denken, nun, unsere Tätigkeit hier besteht einfach darin, das Staunen nicht zu verlernen, genau zu beobachten, tief zu fühlen, das so Erfahrene nach allerhand Mustern zu sichten und es hierauf nach Maßgabe von lebendiger Wahrscheinlichkeit repräsentativ anzuordnen und vorzuzeigen. – Doderer bewundert zum Beispiel Goethe, dessen Unermüdlichkeit, ja Unersättlichkeit im Beobachten. Was Doderer dabei aber ganz und bezeichnenderweise aus den Augen lässt: Goethe hat bereits die Kurve zur Wissenschaftlichkeit genommen. Er sagte sich etwa: Was diese Leute an Methodik ausgeknobelt und erfunden haben, nun, mal sehen, was sich damit in der Kunst anfangen lässt. Doderer und die modernen Wissenschaften? Nein, nichts da! (Inwieweit dies den Zeitumständen geschuldet ist, das ist eine andere Frage.)

Und hier noch ein weiteres Zitat aus den „Tangenten“, das einerseits das Weltferne, ja Provinzielle an DoderersBemühungen ausstellt, andererseits wieder anrührt durch den Ernst, den Ernsteines Kindes, das seineigenes Spiel spielt: MeinSchreiben jetzt jedochkommt aus dem Staunen über die ins immer klarer einfallende indirekte Licht gerückten Dinge derVergangenheit (in ProustsWerk ist gerade diese Wurzel des Schreibens die kardinale, er sagt es ja selbst im Titel seines Hauptwerks).

Gewiss, ich hätte mit Doderer produktiv, naturgemäß oft kontrovers diskutieren können. Nur hätten wir zu Anfang eine Klärung der wichtigsten Begriffe durchführen müssen. Wie dem auch sei: Mithilfe des von ihm erarbeiteten Instrumentariums und einer zuletzt doch errungenen Haltung hat Doderer Werke geschaffen, die uns, bei aller Reserve, Respekt abverlangen. Manchmal kommt es mir beim Blättern in Doderers theoretischen Aufzeichnungen vor, als gebe es so etwas wie einen Grundstock an Wissen,von Einsichten und dem daraus entspringenden Regelwerk, ohne den nichts Großes geschaffen werden kann. Auf welchem Weg, auf welcher denkerischen Route dieses Wissen erworben wurde und wird, scheint letzten Endes gleichgültig: „Wer immer strebendsich bemüht, den können wir erlösen“, heißtes im „Faust“.

Als ob ich noch nie einen Roman geschrieben hätte: so steh' ich vor dieser Arbeit, notierte der 67-jährige Doderer zu seinem in Arbeit befindlichen, letzten Roman, „Der Grenzwald“. Es sollte ihm nicht gegeben sein,ihn zu vollenden.

Rufbar muss der Schriftsteller sein jederzeit zu jeder Stelle seiner uneingeschränkten Apperzeptionshorizonte, sei's des grammatischen, des sexuellen, sensuellen oder dialektischen: frei muss er dem Rufe folgen können.

„Der Grenzwald“ greift ein Neues. Nun weiß ich's. Er wächst aus einem neuen Leben, das ich bisher nicht führte.

Alles braut sich dort still zusammen, und es entsteht der Bezug zwischen Zentren, die füreinander unsichtbar bleiben.

Dies fassen, dazu ein Herz sich fassen. Alles geht mit drein! Dring' nur tiefer: du wirst schon sehen, worauf du stößt.

Das Novellistische ist im Roman als Agensunentbehrlich, aber es stellt (nur) eine Stimmeunter anderen dar und ist für den Romancier kein Solo-Instrument. Sein tiefes Schweigen mitten im Gebraus der Stimmen! Ja, er enthalte sich jeden Wortes!

Ausbreiten und durchscheinend sein lassen: das ist die ganze Romankunst.

Höchste Anschaulichkeit: Hier sind wir dort, wo das Leben wirklich geschieht.

Dichterworte und aphoristische Glanzlichter, davon haben wir zum Erbrechen genug.

Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst im Denken und Fühlen; Mehrfachcodierung desTextes; Leitmotivtechnik im Aufbau; Polyzentralität des Textgebildes; Anschaulichkeit und Plausibilität – so könnte man das Vorhaben heute benennen. Was da erscheinen soll, ist das Leben selbst, die sogenannte Welt. Es gibt allerdings Unaussprechliches; es zeigt sich, heißt es bei Wittgenstein. Doderer glaubte, mit seinem Vorgehen den Lauf des Schicksals, ja die Wege Gottes erhellen zu können. Was soll das? Der Sinn ist nur der treibende Schaum auf den Wassern des Unsinns. Wobei unter „Unsinn“ hier nicht nur das falsch Gewusste verstanden sein soll, sondern vielmehr und in der Hauptsachedas ungeheure und unendlich große Nicht-Gewusste. Kunst ist freilich nicht nur vernünftig. So muss und kann offenbleiben, woher vieles kommt, was uns an den Hervorbringungen der Künstler erfreut, erhebt, belehrt, herausfordert et cetera – am Ende und tief aufgefasst aber immer beglückt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2016)

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