Island: "Irgendwer muss auf der Insel bleiben"

„Hu! Hu! Hu!“ Das Jubelritual der isländischen Fußballer ist ein Schauspiel. Der Fanverband Tolfan (die Zwölf) hat es vor einigen Jahren initiiert.
„Hu! Hu! Hu!“ Das Jubelritual der isländischen Fußballer ist ein Schauspiel. Der Fanverband Tolfan (die Zwölf) hat es vor einigen Jahren initiiert.(c) APA/AFP/BERTRAND LANGLOIS
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Im Inselstaat herrscht ein fußballerischer Ausnahmezustand. Tickets für Flüge nach Frankreich und das Duell mit dem Gastgeber sind heiß begehrt. Österreichs isländischer Handball-Teamchef Patrekur Johannesson gewährt Einblicke.

Nizza/Reykjavík. Patrekur Johannesson ist ein ausgesprochen angenehmer Gesprächspartner. Wer dieser Tage mit dem 43-Jährigen über Fußball und das Leben in Island spricht, der wird von dieser positiven und fröhlichen Art, die der Nordländer ausstrahlt, regelrecht angesteckt. Johannesson ist seit viereinhalb Jahren Teamchef der österreichischen Handballnationalmannschaft, aktuell schlägt sein Herz aber für den Fußball.

Natürlich hat Johannesson am Montagabend das EM-Achtelfinale des isländischen Nationalteams gegen England verfolgt, „so wie 99 Prozent meiner Landsleute auch“. Es war ein Spiel, das in die Geschichte des Inselstaats eingehen sollte. Island, der krasse Außenseiter und einstige Fußballzwerg, zog nach einem 2:1-Erfolg in das Viertelfinale ein. In der Hauptstadt Reykjavík lagen sich nach Schlusspfiff wildfremde Menschen in den Armen. Diese Mannschaft eint eine ganze Nation, es herrscht Ausnahmezustand. „Unsere Spieler sind eine Einheit, sie bringen die Leute auf den Straßen zusammen. Es macht mich stolz, das alles erleben zu dürfen“, sagt Johannesson, der gerade in seiner Heimat urlaubt.

Sogar Raketen steigen

Feuerwerke sind in Reykjavík eigentlich verboten, in dieser magischen Nacht aber wurden Gesetzte kurzerhand außer Kraft gesetzt. „Die Polizei hatte nichts dagegen.“ Johannesson berichtet im Gespräch mit der „Presse“ von einer Fernsehmoderatorin, die die Nachrichten im Teamtrikot ansagte – vor wenigen Wochen noch ein unvorstellbares Bild. Und Gudmundur Benediktsson, der TV-Kommentator, ist ohnehin schon Kult. Der 41-Jährige spielte einst selbst zehnmal in der Nationalmannschaft, versuchte sich später erfolglos als Trainer. Jetzt sind seine ekstatischen Auftritte YouTube-Hits. „Er ist schon genauso bekannt wie die Spieler. Gudmundur hat diese positive Energie, das ist fantastisch.“

Elfen, Trolle, Vulkane, wilde Natur – Island ist gewiss ein facettenreiches Land, das nun eine neue, andere Seite hervorkehrt. Spätestens mit den Einzug in das Viertelfinale ist die Bevölkerung endgültig dem Fußball verfallen. Da macht es auch nichts, dass es in Island gar keine Profiliga gibt, nur rund 20.000 registrierte Fußballer gemeldet sind.

Auf Frankreichs Plätzen stehen stets elf Mann parat, die es mit der Elite Europas aufnehmen können. „Man hat gegen England gesehen, dass wir nicht nur Herz, Leidenschaft und Willen verkörpern. Nein, wir Isländer können auch Fußball spielen“, betont Johanneson.

Das ist per se keine weltbewegende Neuigkeit, immerhin ist der Mannschaft des Schweden Lars Lagerbäck schon beinahe die Qualifikation für die WM 2014 geglückt. Beeindruckender ist da schon die „furchterregende Einfachheit“ („L'Equipe“), mit der Sigurdsson, Bjarnason und Co. zu Werke gehen. Island wird sich auch am Sonntag (21 Uhr, live ORF eins) gegen Frankreich im Stade de France zu Saint-Denis nicht neu erfinden, weil es das auch gar nicht kann. Johannesson glaubt an ein Weiterkommen, er sieht sogar eine „gute Möglichkeit“, die Titelträume des Gastgebers platzen zu lassen. „Klar ist Frankreich eine Topmannschaft, aber das waren Portugal und England auch.“

Auf nach Paris!

Der Inselstaat mit seinen knapp 330.000 Einwohnern wird sich in den kommenden Tagen wieder in Bewegung setzen. All jene, die nicht ohnehin schon in Frankreich zugegen sind, werden sich um Flug- und Matchtickets bemühen. Es verwundert nicht, dass die Website der Fluglinie Wow Air kurz nach dem Sieg gegen England zusammenbrach. Viele Isländer kratzen nun ihr Erspartes zusammen, der geplante Urlaub wird gestrichen, lieber begibt man sich nun auf einen abenteuerlichen Fußball-Trip. „Alle wollen nach Paris, aber ein paar müssen auch auf der Insel bleiben“, sagt Johannesson und muss lachen.

Er selbst würde übrigens auch gern Sonntagabend im Stade de France Platz nehmen, seine Chancen stehen gut. Am Wochenende wurde sein Bruder, Gudni Jóhannesson, zum neuen Präsident Islands gewählt. „Ich werde schauen, was er für mich machen kann.“

ZUR PERSON

Patrekur Johannesson wurde am 7. Juli 1972 in Reykjavík geboren. Er bestritt 241 Spiele für das isländische Handballnationalteam, seit November 2011 betreut er Österreichs Herrenauswahl und führte diese zur EM 2014 und zur WM 2015. [ APA ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

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