Streik: Die neue deutsche Kampfeslust

Dortmund 11 5 2011 Etwa 100 Eltern und ihre Kinder demonstieren am Montag 11 5 2015 in Dortmund ge
Dortmund 11 5 2011 Etwa 100 Eltern und ihre Kinder demonstieren am Montag 11 5 2015 in Dortmund geimago/Friedrich Stark
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Postler, Piloten, Lokführer, Erzieher: In Deutschland beherrschen seit Wochen Arbeitsausfälle den Alltag. 2015 dürfte ein Streikrekordjahr werden.

„Die Deutschen sind schockiert.“ Man kann nicht umhin, eine feine Ironie in diesem Satz zu orten, der dieser Tage durch die französische Medienlandschaft gewandert ist. Denn Paris ist es gewohnt, dass Arbeitskämpfe regelmäßig das Land lahmlegen, aber dass seit einiger Zeit auch die sonst so pragmatisch und sozialpartnerschaftlich eingestellte deutsche Arbeiterschaft die Fäuste ballt, nimmt man in Frankreich, dem traditionellen Streikland, doch überrascht zur Kenntnis. „Was ist, wenn die Deutschen die neuen Streikchampions werden?“, fragt sich etwa die Zeitschrift „Courrier International“.

Nun, die neue deutsche Kampflust verwundert auch die Medien zwischen Hamburg und München. Von Streikeritis ist die Rede. Allein in diesem Jahr sind laut Berechnungen des Kölner Instituts für Wirtschaft (IW) 350.000 Arbeitsstunden ausgefallen – doppelt so viele wie im gesamten Jahr zuvor. Es dürfte ein Streikrekordjahr werden. In dieser Woche hat die Lokführergewerkschaft GDL zum neunten Arbeitsausfall im laufenden Tarifkonflikt aufgerufen, zwar unbefristet, aber nach wenigen Tagen konnte der Streik mit einer Schlichtungsvereinbarung beendet und das betriebsame Pfingstwochenende gerettet werden. Die Erleichterung währte wahrlich kurz, denn sogleich hat die viel größere Eisenbahngewerkschaft EVG Warnstreiks angekündigt, sollten die Tarifgespräche weiter stocken (die Bahn verhandelt mit beiden Gewerkschaften getrennt).

Noch am letzten Tag des achten GDL-Arbeitsausfalls Anfang Mai – der längste in der deutschen Bahngeschichte – wurde der Staffelstab direkt an die Erzieher der öffentlichen Kindertagesstätten (Kitas) übergeben; sie befinden sich nun in ihrer zweiten Streikwoche. Die Postler indes haben ab Donnerstag die Arbeit wiederaufgenommen – bis Mittwoch waren vor allem in den Ballungszentren der Bundesrepublik die Postkästen leer geblieben. Derzeit verhandeln sie in der fünften Runde. Und pünktlich zu Beginn der Urlaubssaison im Juni drohen auch die Fluglotsen mit Streik: Mit den neuen Vorgaben der EU-Kommission zur Vereinheitlichung des Flugverkehrs befürchtet die Gewerkschaft weitreichende Einsparungsmaßnahmen.

Betroffen von Arbeitsausfällen waren heuer – in einzelnen Regionen – auch der Einzelhandel und das KfZ-Gewerbe. Die Metall- und Elektroindustrie hat mehrere Warnstreiks durchgeführt, und nicht zuletzt legen derzeit auch die Lufthansa-Piloten ihre Arbeit nieder; etliche Flüge sind bereits ausgefallen. Dabei schließen Experten wie der Streikforscher Jörg Nowak (Universität Kassel) eine Kettenreaktion nicht aus: Der Streikerfolg einer Branche wird zum Vorbild der nächsten. Zudem finden derzeit in Deutschland besonders viele Tarifverhandlungen in wichtigen Branchen statt. Dennoch: „Wir haben mehr Streiks als vor zehn Jahren, aber wesentlich weniger als in den 1970er- und 1980er-Jahren“, sagt Nowak.

Besonders die Privatisierung von Post und Bahn habe die arbeitsrechtliche Situation kompliziert und damit für Zündstoff gesorgt: Der eine Teil der Arbeiterschaft in derselben Branche ist pragmatisiert, der andere eben nicht. Hinzu kommt, dass sich die Konkurrenzgewerkschaften gegenseitig aufstacheln. Überhaupt sind die Gewerkschaften gerade dabei, sich neu zu positionieren, haben sie sich doch in den vergangenen zwei Jahrzehnten eher in der Defensive befunden. Überspitzt gesagt: Die Gewerkschaften haben in den vergangenen 20 Jahren oft nicht bessere Arbeitsbedingungen ausverhandelt, sondern viel schlechtere abgewendet, so Nowak. Auffallend bei den derzeitigen Tarifverhandlungen ist auch, dass die kleinen Gewerkschaften die großen wie Ver.di vor sich hertreiben, sagt Hagen Lesch vom Kölner IW: „Die kleinen sind stark. Sie verhandeln aggressiver.“

Buhmann Weselsky. Es wird also mehr gestreikt, aber die Arbeitsausfälle sind auch deswegen sichtbarer, weil sie vermehrt die Dienstleistungsbranche betreffen. Wenn früher die Produktion in den Opel-Werken bestreikt wurde, hatte das keine Auswirkungen auf den Alltag in der Bundesrepublik. Gehen aber die Lokführer auf die Barrikaden, bleiben hunderttausende wütende Passagiere auf ihren Koffern sitzen. Gerade Claus Weselsky, Chef der GDL, verkörpert wie kein anderer den neuen kämpferischen Habitus: Er wurde zum Buhmann der Nation ernannt, zum „Bahnsinnigen“. Ein Bild seines Wohnhauses geisterte durch die Medien, und der Autovermieter Sixt, der seine Freude ob des enormen Zulaufs dank Bahnstreiks kaum fassen konnte, ernannte Weselsky gar zum „Mitarbeiter des Monats“. Er selbst zeigt sich unbeirrt. Wie bei den Streiks in den anderen Branchen auch weiß er die Arbeiterschaft hinter sich, die sich zuvor in einer Urabstimmung dazu entschlossen haben.

Dabei können die Erzieher, die als chronisch unterbezahlt gelten, mit mehr Sympathien bei der Bevölkerung rechnen als die Eisenbahner. Noch. Viele Eltern verbrauchen derzeit ihren Urlaub, um zu Hause bleiben zu können, und der Kita-Arbeitsausfall soll auch nach Pfingsten fortgesetzt werden. Dass aber in Deutschland bald französische Verhältnisse herrschen werden, wie in Berlin mahnend wiederholt wird, ist unwahrscheinlich. „Ab dem zweiten Halbjahr werden Branchen verhandeln, die nicht sehr streikanfällig sind“, sagt Lesch. Der Arbeitskampf werde vermutlich deutlich abnehmen, einen Trend sehe er jedenfalls nicht.

Zudem hat am Freitag der Bundestag das umstrittene neue Gesetz zur Tarifeinheit beschlossen. Sind in einem Betrieb Mitarbeiter mit verschiedenen Tarifverträgen beschäftigt, dann gilt lediglich der Vertrag, den die größte Gewerkschaft ausverhandelt hat. Soll heißen: Streiks der kleineren Gewerkschaften könnten fortan verboten werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2015)

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