Heute vor... im November: Wie neutral sind die Vereinigten Staaten?

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Lieferung von Munition und Waffen an die Entente.

Neue Freie Presse am 30.11.1914

Auf die Frage, wie die Lieferung von Kriegsmaterial an die Gegner Deutschlands mit der zu Anfang des Weltkrieges vom Präsidenten Wilson angegebenen Neutralitätserklärung zu vereinbaren sei, antwortete der amerikanische Botschafter in Berlin, er persönlich wisse nichts von solchen Lieferungen, aber falls die Nachrichten über den Transport von Munition und Waffen aus der Union sich bestätigen sollten, so sei das nicht gegen das Völkerrecht. Die Sachen stammen ja von privaten Lieferanten und diese würden dasselbe an Deutschland schicken, wenn es drüben Bestellungen aufgeben sollte. Natürlich sei der Transport dann schwieriger und das Risiko größer. Zum Schlusse der Unterredung bat der Botschafter, an die deutsche Presse und das Volk die Mahnung zu richten, sich nicht gegen Amerika zu wenden, da nun die Stimmung in Amerika erfreulicherweise zugunsten Deutschlands und Österreich-Ungarns umzuschlagen beginne.

Raus mit den Fremdwörtern aus der deutschen Sprache?

Hugo von Hofmannsthal schreibt über "Unsere Fremdwörter".

Neue Freie Presse am 29.11.1914

Gibt mir einer einen Zettel in die Hand, auf welchem anstatt Programm Vortragsfolge steht, so werde ich nichts gewahr als einen Versuch am untauglichen Objekt und einen erstaunlichen Mangel an deutschem Sprachgefühl. Reihenfolge ist ein schönes deutsches Wort. Vortragsfolge dagegen ein abscheuliches; im Klang hässlich wie niemals die alten gut gebornen Zusammensetzungen, ist es ein zusammengestoppeltes Kunstwort. Was soll uns dies als Ersatz für das halb so kurze, nett und  scharf dastehende Programm, das doch im übrigen - muss man dies sagen? - kein französisches Wort ist, sondern ein griechisches, und mit den Griechen und Römern liegen wir ja wohl doch nicht im Kriege. ... In diesem unserem Sprachbesitz steckt ein ganzer Wust von Fremdwörtern, aber es sind u n s e r e  Fremdwörter, sie sind bei uns seit Jahrhunderten zu Hause und so sehr die unseren geworden, dass sie gelegentlich in der eigenen Heimat ihr Bürgerrecht verloren haben.

Merkwürdiges in den Schützengräben bei Ypern

Gemeinsames Kaffeekochen der Feinde.

Neue Freie Presse am 28.11.1914

Über Kämpfe bei Ypern meldet ein Augenzeuge im englischen Hauptquartier: In der jetzigen Art der Kriegführung kommen die merkwürdigsten Situationen vor, zumal die Feinde oft keine dreißig Meter entfernt in ihren Laufgräben liegen. Die Feinde unterhalten sich und teilen ihren Tabak miteinander. Das ist den Leuten umso angenehmer, als sie vom Granatfeuer nichts zu fürchten haben, da die feindliche Artillerie nicht schießen kann aus Furcht, ihre eigene Infanterie zu treffen. Manchmal ist der Laufgraben des Feindes eine sicherere Deckung als der eigene. Manchmal verständigen sich die Feinde auch dahin, sich vorläufig gegenseitig in Ruhe zu lassen. So geschah es in einem Falle, dass, als die Leute eines unserer Bataillone Wasser heiß machen wollten für ihren Tee und die Deutschen den Wunsch nach heißem Kaffee hegten, beide zu einem noch glimmenden, zerschossenen Hause hinübergingen, wo sie in aller Ruhe ihren Kaffee und Tee kochten, bis eines Tages die Deutschen nicht mehr mitmachten und aus dem Idyll wieder blutiger Kampf wurde.

Anmerkung: Episoden wie diese werden auch von anderen Zeitzeugen geschildert. Die Verteidigungssysteme an der Westfront lagen streckenweise so nahe beieinander, dass die eigenen Stacheldrahtverhaue in die des Gegners übergehen konnten und sich die Feinde bei nächtlichen Patrouillegängen begegneten. "An manchen Teilen der Stellung", schreibt Ernst Jünger, Schriftsteller und Soldat, in seinem Buch "Stahlgewitter", "stehen die Posten kaum dreißig Schritte voneinander entfernt. Hier spinnt sich zuweilen eine persönliche Bekanntschaft an; man erkennt Fritz, Wilhelm oder Tommy an der Art, in der er hustet, pfeift oder singt. Kurze Zurufe, die eines rauhen Humors nicht entbehren, gehen hin und her. 'He, Tommy, bist du noch da?' - 'Ja!' - 'Dann steck mal den Kopf weg, ich will jetzt schießen!'" Es waren vor allem die vorgeschobenen Posten in den ins Niemandsland vorgetriebenen Gräben, die sich auf diese Weise näherrückten. Die Zurufe konnten von Schmähungen bis zu Informationen über zeitweilige Feuerpausen zur Bergung von Toten und Verwundeten reichen. Mehr dazu beim Thema "Weihnachtsfrieden 1914".

Wien geht zu Winterbeginn die Kohle aus

Schleppende Zufuhr aus den Kohlerevieren.

Neue Freie Presse am 27.11.1914

Die Staatsverwaltung hat den nordwestböhmischen Kohlenrevieren die Lieferung von 90.000 Tonnen Kohle für die Gemeinde Wien aufgetragen. Die Ablieferung soll in Partien von 3000 Tonnen innerhalb 30 Tagen erfolgen. Die Kohlenzufuhr aus Oberschlesien vollzieht sich schleppend. Obwohl im Tage 450 Waggons Kohle avisiert sind, kommen tatsächlich bloß 320 Waggons herein. Eine Schwierigkeit stellt die ungenügende Zahl von Lagerplätzen dar. Die Rutschen, die auf den Kohlenbahnhöfen vorhanden sind, genügen nur zum Teil den Anforderungen. Es ergibt sich daher die Notwendigkeit, neue Depotplätze anzulegen, was von manchen Seiten mit dem Hinweise abgelehnt wurde, dass die Herrichtung von Depotplätzen etwa drei Wochen in Anspruch nimmt und mit größeren Kostenaufwendungen verbunden wäre.

Wie lange hält die russische Dampfwalze noch durch?

Gewaltige Menschenverluste bei der russischen Armee.

Neue Freie Presse am 26.11.1914

Wir erfahren heute, dass die Gegenstöße der Russen aus der Richtung von Warschau gescheitert und dass sämtliche Angriffe in der Gegend östlich von Czenstochau vor der deutschen Front zusammengebrochen seien. Neunundzwanzigtausend Russen sind in die Hände unserer Armee gefallen. Wo so viele Gefangene sind, müssen noch weit mehr Verwundete, Vermisste, Kranke und Tote sein, und der gewöhnliche Schlüssel ist, die Ziffer zu verdreifachen. Auch die Dampfwalzen verbrauchen sich, und Russland hat so gewaltige Abgänge von seiner Armee gehabt und so viel Mannschaft eingebüßt, dass sein Vorrat an lebendigen und mechanischen Kriegsmitteln bereits stark angegriffen sein dürfte. Der Prozentsatz der Volksvermehrung war bei den Russen immer sehr günstig, und dieses rasche Wachstum hat auch durch die Gleichgültigkeit, mit der sie den Wert des Menschenlebens behandeln, kaum gelitten.

Der Marsch der Soldaten durch die Wüste

Das Problem der Wasserversorgung für die Truppen im Nahen Osten.

Neue Freie Presse am 25.11.1914

Der Marsch durch die Wüste ist eine Leistung, die vom Laien trotz der allgemeinen Kenntnis von Beschwerlichkeiten, die sich dort bieten, nicht in vollem Maß gewürdigt werden kann. Bei diesen Märschen werden den Truppen Abteilungen von Kamelreitern vorausgeschickt, die man etwa als berittene Infanterie bezeichnen könnte. Ihre Aufgabe besteht darin, nach einem vorher festgelegten Plan die auf dem Wege befindlichen Brunnen zu sichern. Die Abteilungen suchen die Brunnen auf, überzeugen sich davon, ob sie vom Feind besetzt gehalten werden, nehmen, wenn notwendig, auch den Kampf mit ihm auf und benachrichtigen die Hauptmacht, die erst viel später abmarschiert, durch zurückgeschickte Patrouillen über ihre Wahrnehmungen oder Erfolge. Die Wasserfrage ist die wichtigste, sie ist eine Lebensfrage in diesem Terrain. Gelingt es nicht, sich in den Besitz der Brunnen zu setzen, so muss die Hauptmacht zurückkehren, bis ein neuer, vielleicht stärkerer Angriff zur Verjagung des Feindes führt. Würde dieser Vorgang nicht beobachtet werden, dann kämen die Truppen bei den Brunnen in erschöpftem, durstigem Zustande an, wären zum Kampf nicht geeignet, würden auch bei einem etwa notwendig werdenden Rückzug halbverschmachtet aufgerieben werden können. Es wird in der Wüste daher hauptsächlich um den Besitz der Brunnen gekämpft. Ein Versagen, ein Unterlassen, kann die ganze Expedition zum Scheitern bringen.

Eine Milliarde Feldpostsendungen 

Mehr Briefe aus der Heimat zu den Soldaten an der Front.

Neue Freie Presse am 24.11.1914

Einer amtlichen Mitteilung zufolge gelangten im Deutschen Reiche seit dem Beginn des Krieges an jedem Tage ungefähr 5 bis 6 Millionen Postsendungen von im Felde stehenden Heeresangehörigen in der Heimat zur Bestellung. Unter Zugrundelegung einer täglichen Zahl von 5 ½ Millionen und der bisherigen Kriegsdauer von rund 110 Tagen würde dies allein schon die Riesensumme von 600 Millionen Feldpostsendungen ergeben. Rechnet man noch die aus Deutschland an die Front beförderten Briefe und Pakete hinzu, deren Zahl zumindest ebenso hoch veranschlagt werden darf, so kommt man zu dem Resultat, dass die Milliarde bereits weit überschritten ist. Man muss es daher begreiflich finden, dass die Bewältigung dieses ungeheuren Verkehrs sich nicht immer völlig klaglos abwickelte, jedoch auch in dieser Hinsicht ist, wie nunmehr öffentlich anerkannt ist, eine wesentliche Besserung eingetreten.

Anmerkung: Während des Ersten Weltkriegs wurden von der Deutschen Reichspost ca. 29 Milliarden Postsendungen übermittelt, die Schätzungen in Österreich-Ungarn weisen auf 22 Milliarden. In Anthologien werden meist Briefe von Frontsoldaten in die Heimat abgedruckt, der größere Teil der Briefe und Karten ging jedoch von der Heimat an die Front. Von der Deutschen Reichspost wurden 17,7 Milliarden Sendungen von der Heimat an die Front befördert, 11 Milliarden von der Front in die Heimat. Die Briefpost war das wichtigste Kommunikationsmittel. Die Postsysteme Österreichs und des Deutschen Reichs arbeiteten im Krieg eng und relativ problemlos zusammen.

Bolschewistische Agitation gegen den Krieg

Neue Freie Presse am 23.11.1914

Seit Beginn des Krieges nahmen in Russland einige Mitglieder von sozialdemokratischen Vereinigungen eine ganz vereinzelte Haltung ein, indem sie ihre Tätigkeit, die militärische Macht Russlands durch Agitation gegen den Krieg mittels Verteilung geheimer Aufrufe und lebhafter mündlicher Propaganda zu erschüttern, fortsetzten. Im Oktober dieses Jahres erhielt die Regierung Kenntnis von der Absicht, eine geheime Konferenz von Delegierten sozialdemokratischer Organisationen einzuberufen zur Beschlussfassung über Maßnahmen, die auf die Vernichtung des russischen Staatswesens und die rascheste Verwirklichung der Pläne der revolutionären Sozialisten abzielten. Am 17. d. stellte die Polizei fest, dass diese Versammlung zwölf Werst entfernt von Petersburg stattfinde. Eine Polizeiabteilung, die an dem Versammlungsort erschien, fand dortselbst elf Personen vor, darunter die Dumamitglieder Petrikowsky, Badajew, Muranow, Samojlow und Schagow. Da der regierungsfeindliche Zweck der Konferenz außer Zweifel stand und die Teilnehmer in flagranti ertappt worden waren, wurden sie mit Ausnahme der Dumamitglieder, die auf freien Fuß gesetzt wurden, nach durchgeführter Hausdurchsuchung für verhaftet erklärt.

Das Buch der Autonummern – ein Bestseller

Neue Freie Presse am 22.11.1914

Es wird jetzt bald ein Jahr, dass das kleine Werkchen „Die Wiener Autonummern“ von Viktor Silberer erschien. Wie sehr diese Veröffentlichung einem wirklichen Bedürfnis entsprach, zeigte sich an der raschen Verbreitung, die das Büchlein fand, so unter den Kraftwagenbesitzern, in der einschlägigen Geschäftswelt und vor allem bei der Polizeibehörde, für welche die Liste einen sehr wertvollen Dienstbehelf bildet. Leider ergab sich aber bald, dass in dem behördlichen Verzeichnis der Kraftwagenbesitzer im Lauf der Zeit sehr viele Unrichtigkeiten dadurch entstanden waren, dass die fortwährenden zahlreichen Veränderungen, wie Besitz- oder Wohnungswechsel, der Behörde niemals gemeldet wurden. Dadurch häufen sich von Jahr zu Jahr die Unrichtigkeiten. Es ergab sich, dass mehr als die Hälfte der Nummern bedeutende Veränderungen erfahren hat. Die Liste muss daher jedes Jahr unbedingt neu erscheinen, wenn sie den Behörden wie dem Publikum ein brauchbares und verlässliches Handbuch sein soll.

Der Stellungskrieg an der Westfront

Artilleriefeuer ist oft wirkungslos.

Neue Freie Presse am 21.11.1914

Überblickt man die bisherigen Ereignisse in dem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich mit seinen Verbündeten, so steht man der für den Laien überraschenden Tatsache gegenüber, dass die Kämpfe um die festen Plätze in verhältnismäßig kurzer Zeit entschieden wurden, das heißt zur Übergabe der Eroberung führten, dass hingegen die Kämpfe der Feldheere einen langsamen, schleppenden Fortgang nehmen. Dem stürmischen Verlauf der Angriffe auf Lüttich, Namur, Maubeuge und Antwerpen folgt ein wochenlanger mühsamer Kampf. … Gegen einen Schützengraben von zwei Meter verwundbarer Breite sind nach sorgfältig durchgeführtem Einschießen kaum mehr als 3 Prozent Treffer zu erwarten. Sonach kann es geschehen, dass die Artillerie stundenlang feuert, ohne eine Wirkung zu erzielen. Der Schützengraben und seine Umgebung ist wahrhaftig ein Hexenkessel von einfallenden Granaten und explodierenden Schrapnells; der Artillerieführer möchte hoffen, im Ziele alles zertrümmert und vernichtet zu haben, aber die materielle Wirkung ist tatsächlich sehr gering, weil die Infanteriebesatzung während des Artilleriefeuers in den schützenden Unterständen geborgen ist und erst dann an die Kampfstellung tritt, wenn der Feind zum Sturm schreitet und seine Artillerie gezwungen ist, ihr Feuer zu verlegen, um die eigenen stürmenden Truppen nicht zu gefährden.

Kanonendonner der Westfront in Tirol

Auf Bergspitzen hört man dumpfe Donnerschläge.

Neue Freie Presse am 20.11.1914

In einigen Bergdörfern Tirols, wie Vent und Namenlos, wollte man schon seit langem fernen Kanonendonner vernommen haben. Nachdem die Tiroler Zeitungen diese Wahrnehmung anfänglich als eine törichte Einbildung bezeichnet hatten, haben sich die Stimmen, die jene Wahrnehmungen bestätigen, derart vermehrt, dass wenigstens die „Innsbrucker Nachrichten“ die Erscheinung zugeben. In Vorarlberg ist ohne jeden Zweifel auf Bergspitzen der Kanonendonner deutlich hörbar. Bald rasch hintereinander, bald nach kurzen Pausen vernimmt man wenigstens bei klarem Wetter vom Morgen bis zum Abend dumpfe Donnerschläge, die in ihrer Art und Dauer nur mit fernen Kanonenschüssen in Zusammenhang gebracht werden können. Natürlich hat man hier nur an die Kämpfe am Südende der deutsch-französischen Grenze zu denken; bei einer Entfernung von ungefähr 150 Kilometer und namentlich infolge des Umstandes, dass Mülhausen, Belfort und überhaupt das untere Elsass auf einem Plateau von nur 250 Meter Höhe liegen, ist die Fortpflanzung so gewaltiger Donner durch das Rheintal und über den Bodensee her und deren Hörbarkeit auf Höhen von 2000 Meter gar nicht so unmöglich.

Anmerkung: Die Zeitgenossen empfanden den Lärm der Geschütze als grauenerregend. Tondokumente über den realen Schlachtenlärm existieren nicht, die Tontechnik war dazu noch nicht in der Lage. Bislang ist nur eine – britische – Originaltonaufnahme von den Schlachtfeldern bekannt, das Abfeuern von Gasgranaten in der Nähe von Lille. Es handelt sich um eine Propagandaaufnahme. So konnte der Klang des Krieges nur schriftlich wiedergegeben werden, die Soldaten versuchen in ihren Feldpostbriefen mit lautmalerischen Beschreibungen das Unbeschreibliche zu vermitteln. Die gleichzeitige Detonation von 19 unterirdischen Minen, jede mit mindestens 21 Tonnen Sprengstoff versetzt, zusammen mit einem Trommelfeuer von 2.500 Geschützen bei Mesen in Flandern am 7. Juni 1917 gilt als das lauteste bis dahin von Menschen erzeugte Geräusch. Der englische Premierminister Lloyd George konnte es in seinem Büro in Downing Street Nr. 10 hören, sogar in Dublin soll man die Erschütterung noch vernommen haben. (Dokumentation in „Fastnacht der Hölle. Der Erste Weltkrieg und die Sinne“ Ausstellungskatalog Haus der Geschichte Baden Württemberg).

Abendessen bei General Hindenburg

Der Berlin-Korrespondent ist im deutschen Hauptquartier eingeladen.

Neue Freie Presse am 19.11.1914

Das Hauptquartier des Generalobersten v. Hindenburg befindet sich gegenwärtig in einer Stadt. Wie sie heißt und wo sie liegt, darf nicht mitgeteilt werden. Das ist bedauerlich, denn es ist eine der interessantesten Städte im Osten, mit historischer Vergangenheit. In einem der größten und vornehmsten Gebäude ist das Hindenburgsche Hauptquartier untergebracht. Der Generaloberst und seine Offiziere arbeiten und wohnen dort. Tag und Nacht müssen sie bereit sein. Die meisten können das Haus überhaupt nicht verlassen. „Der Beruf bringt das so mit sich“, sagt lachend einer von ihnen, „wir müssen leben wie die Festungsgefangenen.“ Die Bitte Ihres Korrespondenten, Hindenburg und seine Offiziere kennen lernen zu dürfen, wurde vom Generalobersten mit einer liebenswürdigen Einladung zum Abendessen beantwortet. Der Oberbefehlshaber der deutschen Ostarmee war gern bereit, den Vertreter eines Wiener Blattes zu empfangen und auf diese Weise seine Sympathien für Österreich-Ungarn zum Ausdruck zu bringen. Um acht Uhr: „Da ist der Oberbefehlshaber.“ Generaloberst v. Hindenburg ist eine imposante Erscheinung, ganz so hochragend, so reckenhaft, wie man den Sieger von Tannenberg sich vorstellt. Exzellenz v. Hindenburg begrüßt den Gast mit gewinnender Freundlichkeit, begibt sich mit ihm zu Tisch und hat die Güte, ihm einen Platz neben sich anzuweisen. Das Abendessen ist einfach: Suppe und ein Gang. Was an raffinierteren Genüssen gespendet wird, stammt aus Liebesgaben, die in Mengen aus ganz Deutschland bei dem Befreier von Ostpreußen eintreffen. Daher der Champagner und der alte Ungarwein.

Eine Fahrt durch den Suezkanal

Der Schriftsteller Stefan Zweig reist von Port Said durch den Suezkanal.

Neue Freie Presse am 18.11.1914

Fährt man von Europa her zum ersten Mal durch den Suezkanal, so sieht man nur die Landschaft. Die Fahrt durch das Mittelländische Meer ist ja meist voll Unruhe gewesen; in Port Said dann hat das Schiff die ganze Nacht gedröhnt vom Einladen der Kohle, Hunderte und Hunderte halbnackter Araber waren wie gespenstische Schatten im unruhigen Fackelschein vom Landungssteg mit Kohlenkörben auf und nieder gestürmt – kaum aber, dass man in den Kanal geglitten ist, fühlt man auf einmal Stille und hat Raum und Ruhe für den Blick. Ganz langsam gleitet der Dampfer auf der schmalen, tiefblauen Wasserstraße, kaum spürt man das Schüttern der Maschine. Wenig Einzelnes ist dem Blick gegeben: Sandfläche, Sandhügel, gelb rechts und links, manchmal eine Palme, manchmal ein paar Lehmhütten, manchmal ein ägyptisches Boot, ganz das gleiche in den Formen wie jene auf Mumiensarkophagen, dann wieder Fellahs, neugierig starrend oder am Schöpfeimer beschäftigt. Eine Monotonie ist in allem, die aber großartig wird durch die Besonderheit der Atmosphäre und eine magische Tönung der Luft. ... Bald erkennt man das Künstliche und Gefährliche dieses Wasserweges, denn der Suezkanal ist keine einzige, abgeschlossene einmalige Tat, sondern eine unbeständige. Immer wieder ist Mühe und Vorsicht geboten, um diese Straße fahrbar zu machen, ihn täglich zurückzugewinnen von der Natur. Uralte Feindschaft ist ja zwischen Wasser und Wüste und unablässig streut der heiße Sand Milliarden feiner Körner auf die fließende Straße, saugt mit durstigem Mund an der dünstenden Fläche. Unablässig, Tag um Tag muss gebaggert werden, um die Fahrrinne in ständiger Tiefe zu erhalten, jede Welle, jede Erschütterung der Flanken ist Gefahr.

Was ist der Dschihad?

Eine Fatwa ruft zum Heiligen Krieg auf.

Neue Freie Presse am 17.11.1914

Aus Konstantinopel kommt die Kunde, dass der Sultan Mehmed V. auf Grund eines Fetwa des Scheich ul Islam sämtliche Mohammedaner zur Teilnahme am Heiligen Krieg, den Dschihad, aufgerufen habe. Der Dschihad, der Krieg auf dem Wege Gottes, ist die Ausbreitung des Islams mit Waffengewalt, das Bekämpfen der Ungläubigen, um sie zum wahren Glauben zu bekehren, und somit eine Pflicht, und zwar eine religiöse, für die ganze rechtgläubige moslemische Gemeinde.  Die Pflicht des Dschihad ist eine den Gläubigen gemeinsam obliegende Pflicht, nicht eine jedes einzelne Individuum bindende. Sie ist daher erfüllt, wenn ihr eine Anzahl von Moslems nachkommt. Ein Gläubiger, der kämpfend „auf dem Wege Gottes“ gefallen ist, ist ein Märtyrer, dem das Paradies mit besonderen Vorrechten verheißen ist. Das Volk, gegen das der Dschihad gerichtet ist, muss zuvor zur Annahme des Islam aufgefordert werden. Weigert es sich, so hat es die Wahl, entweder sich zu unterwerfen und Kopfsteuer zu zahlen oder zu kämpfen. Von dem Dschihad der alten Zeit unterscheidet sich der gegenwärtige Aufruf zum Kampfe gegen die Ungläubigen schon dadurch gewaltig, dass er nicht gegen alle Ungläubigen, sondern nur gegen bestimmte Feinde, Russland, England, Frankreich und deren Verbündete gerichtet ist. Etwas, was bis her noch nie dagewesen ist.

Die kleinen Sparer zeichnen die Kriegsanleihe

Die Anleihen verloren durch die Inflation  an Wert.

Neue Freie Presse am 16.11.1914

Heute hat die Zeichnung auf die Kriegsanleihe bei allen Subskriptionsstellen in den ersten Morgenstunden offiziell begonnen. Die Voranmeldungen, die bis zum Wochenschluss vorlagen, lieferten ein über Erwarten großes Ergebnis. Ein voller Erfolg der Anleihe scheint als gesichert. Besonders erfreulich ist es aber, dass sich an der Subskription nicht nur die kapitalkräftigen Schichten beteiligen, sondern auch Sparerkreise, die sonst ihre Ersparnisse in Einlagebüchern zusammenfassen. Die kleinen Sparer, die nur in den seltensten Fällen über ein Bankkonto verfügen und daher ihre Zeichnungen nicht auf schriftlichem Wege, sondern im Wege mündlichen Auftrages vollziehen, finden sich in überraschend großer Anzahl bei den Schaltern ein. Die gegenwärtig zur Zeichnung aufgelegte Kriegsanleihe ist also wirklich eine Volksanleihe.

Die Ästheten im Krieg – eine Schande

Die Intellektuellen im Dienst der Propaganda.

Neue Freie Presse am 15.11.1914

Der Ruhigste verliert sein kaltes Blut, wenn er liest, was in diesem Krieg über die deutschen Soldaten zusammengelogen wird. Den Feind zu schmähen, gehört ja zu den Grundrechten, aber die Erfahrung lehrt, dass sich die Kämpfer untereinander nur ausnahmsweise mit Schimpf und Unglimpf verfolgen. Sie fordern vom Gegner das Leben, aber nicht die Ehre. Diese abzuschneiden, überlassen sie den Leuten fern vom Schuss. Und da ist es nun eine der traurigsten Erscheinungen dieses Krieges, dass gerade die geistig höher stehenden oder wenigstens höher eingeschätzten Männer, Dichter, Künstler, Schriftsteller, auch Diplomaten und Minister, sich am willigsten zu dem hässlichen Geschäft der Verleumdung erheben. Gerade diese erwählten, eleganten Geister, gerade diese intellektuelle Auslese, diese Herren Ästheten ganz besonders, die die langen Jahre her über alles Einfache und Natürliche die Nase rümpften, die stets mit geheimnisvollen Mienen umherstelzten, als wäre ihnen und nur ihnen das Evangelium der Kunst offenbart worden, gerade sie lieben es, die blassen Hände mit den spindelfeinen Fingern in dieses Spülicht zu tauchen und ihre ekle Sudelbrühe daraus zu brauen. Sie stellen ihre Kunst in den Dienst der ewigen Lüge. Sie singen Lieder und dichten Gedichte, in denen die Deutschen der fürchterlichsten Dinge beschuldigt werden. Das Maß ist voll, ist übervoll. Mit Achselzucken und überlegenem Lächeln kommt man über diese Dinge nicht mehr hinweg. Zorn und Entrüstung wollen sich Luft machen.

Stürzet euch wie Löwen auf den Feind!

Der Aufruf des Sultans zum Heiligen Krieg.

Neue Freie Presse am 14.11. 1914

Das Kriegsmanifest des Sultans sagt: „Stürzet euch wie Löwen ungestüm auf den Feind, weil ebenso wie unser Reich auch das Leben und die künftige Existenz von dreihundert Millionen Muselmanen, die ich durch ein Heiliges Fetwa zum Heiligen Kriege aufrufe, von eurem Siege abhängen. Die Wünsche und Gebete von dreihundert Millionen unschuldigen und bedrückten Gläubigen, welche in den Moscheen und Medschids sowie in der Kaaba sich mit Inbrunst an den Herrn der Welten wenden, begleiten euch.“ Die grüne Fahne des Propheten ist seit nahezu hundert Jahren nicht mehr entrollt worden. Sie ist das Zeichen für die Entfesselung des Glaubenskrieges, und der Sultan hat ihn verkündet, und sein Wille ruft dreihundert Millionen Mohammedaner zum Kampfe gegen England, Russland und Frankreich auf. Nicht der Sultan erklärt den Krieg, sondern der Kalif, der Nachfolger von Mohammed, der trotz politischer Spaltungen die Gemeinsamkeit verkörpert. Weit hinaus bis nach Indien, Ägypten und bis in die afrikanischen Wüsten werden die mohammedanischen Volksstämme mächtig ergriffen sein, wenn sie hören, dass der Heilige Krieg ausgebrochen sei.

Sonntagsausflug zum Artillerieduell

Lästige Schlachtenbummler an der Front im Westen.

Neue Freie Presse am 13.11.1914

Der französische Generalstab hat viel Last mit neugierigen Parisern, die in Autos angekommen sind, um den Gefechten im Aisne Marnegebiet zuzusehen. Durch die Wachtposten der verbündeten Truppen wissen sie hindurchzukommen mittels besonderer Pässe, die sie sich durch einflussreiche Freunde verschafft haben. Eines Tages hielt wieder eine große Gesellschaft solcher Zuschauer einen Hügel besetzt, von wo man das Artillerieduell, das über die Flussufer hin im Gange war, beobachten konnte. Ein Stabsoffizier ritt auf sie zu und fragte, was sie auf dem Platze zu tun hätten. Und alle die neugierigen Auto-Damen und –Herren antworteten wie aus einem Munde, sie seien gekommen, um zu sehen, ob sie für das Rote Kreuz etwas tun könnten. Sofort meldete der Offizier das einem Arzt, der im nahen Feldlazarett Dienste tat, und der wusste gleich guten Rat. „Es ist von Ihnen sehr freundlich, zu kommen“ sagte er. „Sie können uns sehr große Dienste erweisen. Hier sind Haken und Spaten. Wollen Sie nur beginnen, die toten Pferde zu begraben.“ Es sind nicht viel Pferde begraben worden, aber wohl war die Ecke des Schlachtfeldes eine Zeitlang von Schaulustigen befreit.

Die letzte Fahrt der „Emden“

Der erfolgreichste Kreuzer der deutschen Marine im Fernen Osten zerschossen.

Neue Freie Presse am 12.11.1914

Es ist den Engländern gelungen, endlich des Schiffes habhaft zu werden, das während der ersten Monate des Krieges den englischen Handel im Indischen Ozean so schwer geschädigt hat. Schon wagten sich nur mehr wenige Dampfer auf See hinaus, und immer bedrohlicher wurde die durch die „Emden“ veranlasste Stockung des britischen Seehandels im Indischen Meer. Zahlreiche englische Kreuzer waren ausgesendet worden, um die „Emden“ aufzubringen. Aber das genügte nicht. Auch russische, japanische, französische Schiffe und Schiffe der australischen Kriegsmarine mussten an dem Kesseltreiben teilnehmen, bis endlich das edle Wild zur Strecke gebracht wurde. Die „Emden“ ereilte das Schicksal, als sie den Kokosinselarchipel aufsuchte und dort auf der Insel Keeling die englische Funkstation und die dort mündenden Kabel zerstörte. Die „Emden“ hatte einen Teil ihrer Besatzung ans Land geschickt, um die Kabellandungsstellen zu zerstören. Sie wurde nun von dem australischen Kreuzer „Sydney“ entdeckt und zum Kampfe gestellt. Zum Kampfe gezwungen, wehrte sie sich bis zum Äußersten. Sie wurde auf den Strand gesetzt und verbrannte.

Bericht aus dem russisch besetzten Czernowitz

Vandalismus und Rohheit der Besatzer

Neue Freie Presse am 11.11.1914

Bekanntlich haben sowohl der russische General bei der Übernahme der Stadt als auch die russischen Gouverneure und Stadtkommandanten für die Sicherheit des Lebens und des Privateigentums ausdrücklich Garantie geleistet, falls die Bevölkerung keine Angriffe auf die Soldaten unternimmt und Ordnung und Ruhe halten wird. Obgleich diese Bedingungen von Seiten der Einwohner voll und ganz erfüllt wurden, verübten die russischen Truppen mehr Grausamkeiten und Rohheiten, als man befürchtete. Die Disziplin bei dem russischen Militär scheint eine sehr lockere zu sein, wenngleich die Offiziere gegen die Mannschaften große Strenge und Rohheit an den Tag legten. So kam es oftmals vor, wenn man sich bei einem Offizier über einen Mann beklagte, der einen Diebstahl oder Raub verübte, dass er denselben sofort auf der Straße mit der Knute züchtigte. Dies geschah aber nur dann, wenn man den betreffenden Missetäter bei der Tat erwischte und ein Offizier gerade in der Nähe war, sonst war man aber machtlos. Viele staatliche Gebäude fielen dem Vandalismus der Russen zum Opfer. Den Wartesaal erster Klasse auf dem Hauptbahnhof haben sie sofort als Pferdestall eingerichtet und die Wohnungen der Bahnbeamten ausgeraubt. Auf einsamen Gassen der Stadt, gewöhnlich bei Eintritt der Dunkelheit, umringten mehrere Russen einen Passanten und verlangten Geld auf Bier. Auf Uhren hatten sie es insbesondere abgesehen, und wie man auf ihre Frage „Wie viel Uhr ist es?“, die Uhr aus der Tasche zog, war dieselbe auch schon verschwunden.

Die österreichische Kriegsanleihe – eine Bürgerpflicht

Eine Kriegsanleihe muss helfen, den Krieg zu finanzieren.

Neue Freie Presse am 10.11.1914

Der Finanzminister wird zur Zeichnung auf eine Kriegsanleihe einladen. Der Aufruf wird jeden, dem der Segen einer Lebensarbeit oder das Erbe seiner Eltern zuteil geworden ist, vor eine sittliche Pflicht stellen. Für das österreichische Publikum ist die Sorge um den Ausgang des Krieges nicht Politik und nicht Öffentlichkeit, sondern etwas, das die Person und die Familie unmittelbar berührt; es wird von dieser Anleihe das Gefühl nicht ausschalten, und sein Gewissen braucht wahrhaftig nicht erst geweckt zu werden. Der Finanzminister will sich ein hohes Ziel stecken, und wir hoffen gleich ihm, dass sich Österreich unter den großen Völkern werde sehen lassen können und dass die Ziffern dem Feinde ins Gesicht schlagen und uns Ehre einlegen werden. Die Einladung zur Anleihe wird in Wirklichkeit ein Wunsch sein, den die Armee dem Volke unterbreitet. Der Erfolg würde ihr Selbstgefühl heben und den Hochmut der Feinde beugen.

Die Leiden der Kriegsgefangenen in Frankreich

Neue Freie Presse am 9.11.1914

Heute morgen sind elf Frauen und Mädchen und sieben Kinder, welche die letzten Wochen in französischer Kriegsgefangenschaft zugebracht haben, in Budapest eingetroffen. Unter ihnen befand sich auch die Gattin des Oberstleutnants Friedrich Muratti, die mit ihrem Gatten und drei Kindern in Paris vom Ausbruch des Kriegses überrascht wurde. Sie erzählt, dass sie mit ihrem Gatten und ihren Kindern am 6. August unter militärischer Bedeckung nach Flairs gebracht worden sei. Während des Transportes wurden die Kriegsgefangenen mehrfach verhöhnt, bespuckt und tätlich insultiert, Lebensmittel konnten sie nur zu Wucherpreisen erhalten. Von Flairs brachte man die Familie nach Garaison, wo etwa tausend Kriegsgefangene in einem alten Kloster untergebracht waren. Alle mussten um halb 7 Uhr morgens aufstehen und sich um 5 Uhr zu Bett begeben. Die Männer und Frauen wurden voneinander getrennt. Die Männer mussten schwere Arbeiten verrichten, Holz hacken, Steine klopfen usw., ohne dass sie dafür bezahlt worden wären. Die Frauen wurden oft ebenfalls angehalten, Arbeiten zu verrichten und mussten insbesondere für die im Kloster gezüchteten Schweine Eicheln sammeln. Als Nahrung erhielten die Gefangenen seit drei Monaten kaum etwas anderes als Kartoffelsuppe. Herzzerreißend war der Abschied der aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Frauen von ihren zurückbehaltenen Männern.

Bei den „Austrians“ in Neuseeland

Alice Schalek berichtet über das Schicksal ausgewanderter Österreicher.

Neue Freie Presse am 8.11.1914

Die Schriftstellerin Alice Schalek schreibt uns: Kürzlich ging die Nachricht durch die Blätter, dass in Neuseeland eine Anzahl Österreicher auf einer Insel als kriegsgefangen interniert sind. Es mag nun verwunderlich scheinen, dass es überhaupt auf dieser östlichsten Insel der Welt eine erwähnenswerte Zahl unserer Landsleute gibt, die man ja sonst in so fernen Landen so selten trifft, dass ich dort oft Auskunft darüber zu erteilen hatte, was „Austria“ denn eigentlich für ein Land sei. In Auckland nun, der nördlichsten Großstadt Neuseelands, stand ich plötzlich der erstaunlichen Tatsache gegenüber, dass der Name meines Vaterlandes zu meiner Überraschung jedermann geläufig war. Jeder erzählte mir, im Norden Neuseelands gebe es massenhaft „Austrians“. Da aber in dieser Mitteilung immer etwas versteckt Geringschätziges mitklang, suchte ich den österreichischen Konsul auf und zog Erkundigungen ein. Vielleicht interessiert es nun die Leser der „Neuen Freien Presse“, was ich da hörte. Es gibt tatsächlich 4000 Slowenen in Neuseeland, die nördlich vom 37. Grad als „Gumdigger“ leben, das heißt, die eine Arbeit tun, die jedem Britischgebornen zu schlecht ist. In jenen unfruchtbaren Landstrichen, wo einst vor vielen tausend Jahren die Kauribäume standen, deren jeder 1200 Jahre zum Wachsen brauchte, finden wetterharte Erdschaufler, die jeder Entbehrung trotzen, das Kauriharz. Einst galt es für wertlos und wurde zum Einheizen verwendet, jetzt wird es als Rohmaterial zur Erzeugung von Linoleum und Politurfarbe bezahlt. Die Arbeit ist hart, der Strapazen gibt’s unsägliche und der Enttäuschungen unzählbare. Im Jahre 1893 ging der erste Dalmatiner unter die Harzgräber, und da er fleißiger war als alle anderen, verdiente er viel Geld. Bald folgten Vettern und Neffen seinen Spuren. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen sind tadellose Staatsbürger geworden, haben Land gekauft und Neuseeländerinnen geehelicht und sind jetzt ausgezeichnete Farmer.

Selbstversenkung des Kreuzers „Kaiserin Elisabeth“

Nach Kapitulation vor der japanischen Übermacht in Tsingtau.

Neue Freie Presse am 7.11.1914

Die „Kaiserin Elisabeth“ ist nicht mehr. Mit tiefem Bedauern verzeichnen wir diese aus London gemeldete Tatsache, mit Erschütterung sehen wir das Bild des kleinen, schlanken Schiffes mit seinem lichten Oberdeck und seinen zwei Schornsteinen, wie es der ungeheuren japanischen Übermacht nicht mehr Widerstand leisten kann und zum Selbstmorde greift, um nicht in die Hände der Feinde zu fallen. Die Wellen haben sich über ihr geschlossen, und der rund viertausend Tonnen starke Kreuzer ist verloren. Aber nicht verloren ist das Beispiel, das er und seine Bemannung gegebene haben, nicht versinken, auch in Jahrhunderten nicht, wird die Erinnerung an seinen Todeskampf, an die erhabene Waffenbrüderschaft, welche dieser Untergang besiegelt. Nicht vergessen wird unsere Kriegsmarine die Tapferkeit der Besatzung, die sich nicht unterworfen hat, sondern lieber das Schiff dem Meer preisgab als den Feinden.

Großbritannien annektiert Zypern

Vertragsbruch gegenüber dem osmanischen Reich.

Neue Freie Presse am 6.11.1914

Amtlich wird mitgeteilt, dass England Zypern annektiert. Das von den Engländern annektierte Zypern ist die drittgrößte und östlichste der Mittelmeerinseln und besitzt hervorragende strategische Bedeutung wegen ihrer Lage zum Suezkanal und zu Ägypten. Auf Grund eines zwischen der Pforte und Großbritannien am 4. Juni 1878 abgeschlossenen Vertrages sollte Zypern unter englischer Verwaltung stehen. Die Pforte entschloss sich zu diesem Zugeständnis an England aus dem Grunde, weil Großbritannien versprochen hatte, für die Integrität des Ottomanischen Reiches einzutreten. Die Annexion der Insel zeigt, wie England seine Versprechungen hält. Die Bewohner der Insel haben in den letzten Jahren wiederholt gegen die englische Verwaltung revoltiert, doch sind die Aufstände stets blutig abgeschlagen worden. Bemerkt sei noch, dass England, das für Zypern so gut wie für Ägypten an die Pforte vertragsmäßig einen Tribut zu zahlen hatte, diese Verpflichtung seit Jahren nicht eingehalten hatte.

Künstliche Gliedmaßen für die Kriegsverwundeten

Komplizierte Prothesen sind nur dem Stadtmenschen dienlich.

Neue Freie Presse am 5.11.1914

Zwei Gesichtspunkte sind vor allem bei der Auswahl und Konstruktion der Prothesen für unsere amputierten Kriegsverwundeten maßgebend. Zunächst die Maskierung der mitleiderregenden Verstümmelung, ferner die möglichste Förderung der Arbeitsfähigkeit. Der ersten leicht zu erfüllenden Forderung wird entsprochen durch tunlichst getreue Nachbildung des zu ersetzenden Körperteiles. Der zweiten lässt sich nur individualisierend nachkommen. Die einschlägigen Bedürfnisse des Bauern, des Handwerkers sind von denen eine städtischen Schreibtischmenschen grundverschieden. Die Erfahrung lehrt, dass namentlich Bauern und Handwerker ihre kostspieligen Apparate für immer beiseitelegen und sich dann eine grobe „Arbeitshand“ oder einen gut tragenden Stelzfuß selber zimmern und dauernd nur von diesem scheinbar primitiven, aber dem Träger dienlichen Ersatzstücken Gebrauch machen. Demgemäß steht wohl auch die Mehrzahl der Chirurgen, durch Erfahrung belehrt, auf dem Standpunkt, dass die komplizierten mechanischen Prothesen nur dem Stadtmenschen willkommen und dienlich sind.

Die Behandlung der Wunden im jetzigen Kriege

Neue Erfahrungen für das Feldsanitätswesen und die Kriegschirurgie.

Neue Freie Presse am 4.11.1914

Drei Monate Krieg, in denen mehrere hunderttausend Wunden in ärztliche Behandlung genommen worden sind, haben bereits eine solche Summe von Erfahrungen gebracht wie noch nie ein Krieg zuvor. Wir berichten wahrheitsgetreu und können hiedurch hoffentlich vielen Familien die Sorge um ihre verwundet im Felde befindlichen Angehörigen abnehmen oder wenigstens verringern. Bei den durch den Feind hervorgerufenen Verwundungen kommen in Betracht: das Infanteriegeschoss, die Schrapnellkugel, der Granatsplitter, Bombensplitter, Fliegerpfeil, das Dumdumgeschoss, der Querschläger und das indirekte Geschoss. Am menschlichsten ist das deutsche Infanteriegeschoss. Viel weicher ist das französische, das sich deshalb beim Aufschlag auf harte Flächen sehr verändert, noch viel mehr ist dies bei der Schrapnellkugel der Fall, die oft beim Aufprallen die Form einer Schiffsschraube annimmt. Granat- und Bombensplitter haben ganz unberechenbare Formen. Ganz neu ist der Fliegerpfeil. Er ist aus Stahl, ungefähr 15 Zentimeter lang, hat Bleistiftstärke. Wenn er aus ungefähr 1500 Meter Höhe abgeworfen wird, hat er bei der Ankunft auf der Erde eine Geschwindigkeit von 200 Meter in der Sekunde. Dies entspricht ungefähr der Geschwindigkeit von Kugeln aus älteren Büchsen. Nur sind die Wirkungen des spitzen langen Pfeils viel fürchterlicher. Früher glaubte man, dass die Blutgefäße den Geschossen ausweichen könnten. Das gilt aber heute nicht mehr. In diesem Kriege sind Schlagader- und Blutgefäßverletzungen viel häufiger. Wird in der Tiefe des Körpers ein Blutgefäß getroffen, so besteht große Gefahr. Die Folgen der Verwundungen sind Blut, Schock, Schmerz, Verstümmelung, Tod. Der Schock oder Wundschreck sieht bedenklich aus, hat aber nur sehr selten dauernde nachteilige Folgen. Es wird bei den leichtesten wie bei den schwersten Verwundungen beobachtet.

Kriegseintritt der Türkei

Kriegszustand noch ohne Kriegserklärung.

Neue Freie Presse am 3.11.1914

Die türkische Pforte hat auch nach dem heimtückischen Überfall auf ihre Flotte im Schwarzen Meere und auch nach Entdeckung des Plans, heimlich Minen zur Vernichtung der türkischen Schiffe zu legen, den Krieg nicht erklärt. Die Versuche, diese völkerrechtswidrigen Handlungen noch im letzten Augenblick ohne Krieg zu sühnen, wurden fortgesetzt. Die Verhandlungen scheiterten jedoch an einer Forderung, welche die Türkei nicht erfüllen konnte, ohne ihre Unabhängigkeit zu verlieren und sich in die Gefangenschaft der Entente zu geben. Die Ententebotschafter verlangten die Abberufung der deutschen Militärmission, an deren Spitze Marschall Liman v. Sanders steht. Die Türkei hat diese Forderung entschieden abgelehnt und hierauf erfolgte die Abreise des englischen, französischen und russischen Botschafters und der Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Die Ententemächte haben dann ohne die Kriegserklärung abzuwarten, die Feindseligkeiten gegen die Türkei fortgesetzt. Im Mittelmeer wurde ein griechisches Torpedoboot von englischen Kreuzern zum Sinken gebracht, da sie glaubten, dass es sich um ein türkisches Torpedoboot handle. Die englischen und die französischen Handelsschiffe wurden von der Türkei mit Beschlag belegt. Zu Land ist ebenfalls schon gekämpft worden und ohne Kriegserklärung ist der Kriegszustand bereits eingetreten.

Allerseelen im ersten Kriegsjahr

Erbeutete Kanonen auf dem Zentralfriedhof in Wien.

Neue Freie Presse am 2.11.1914

Die Massenwallfahrt am gestrigen Allerheiligentag wurde durch die Wettergunst eines schönen Spätherbsttages gefördert. Das Bild, das die nach den Wiener Friedhöfen führenden Straßen, vor allem aber die beiden Straßen nach dem Zentralfriedhof am Allerheiligentag, der mehr Zeit zum Gräberbesuch gewährt als der Allerseelentag, bieten, ist bekannt. Die Straßenbahnwagen sind mit Kränzen behängt, endlose Automobil- und Wagenkolonnen haben die Friedhöfe als Ziel. Sehr viele Linien der Straßenbahn werden nach dem Zentralfriedhof, und alle Züge, die meistens drei Waggons führen, sind gesteckt voll. Auf den beiden Seiten der Simmeringer Hauptstraße winden sich lange Züge von Fußgängern dem großen Totenfeld zu. In dem großen Halbrund vor dem Haupttor der Kirche sind Stand an Stand die Kränzehändler. Heuer war die offizielle Kriegsblume, die von der Kriegsfürsorge ausgegeben worden ist, vielfach zum ausschließlichen oder teilweisen Bestand der Kränze gewählt worden. Das Ziel der meisten Besucher war das Heldengrab der Kriegsgefallenen. Dort hatten sich um 11 Uhr die Vertreter der gesamten bewaffneten Macht versammelt. Hinter dem Denkmal waren zwei erbeutete Kanonen aufgefahren.

Die Dardanellen - ein neuer Konfliktherd

Türkische und russische Interessen prallen aufeinander.

Neue Freie Presse 1.11.1914

Die Freiheit der Durchfahrt durch die Dardanellen war seit Jahrhunderten der Angelpunkt der russischen Politik. Bis vor verhältnismäßig sehr kurzer Zeit hatten sich jedoch gerade England und Frankreich, die jetzigen Ententegenossen, diesem russischen Wunsche gegenüber sehr ablehnend verhalten. Nun haben die Kämpfe in Belgien und Frankreich dargetan, dass die Macht der beiden westlichen Genossen der Entente eine zu geringe ist und die Unterstützung Russlands von größter Bedeutung für die halbwegs günstige Beendigung des so mutwillig heraufbeschworenen Konflikts ist. Offenbar sind Abmachungen zwischen den drei Mächten getroffen worden, welche den Russen freie Hand in den Meerengen geben. Dies dürfte die Ursache sein, weshalb Russland die Überfälle auf die türkische Flotte veranlasst hat. Die Russen hoffen offenbar, dass Frankreich und England nicht nur ihre Bestrebungen wohlwollend unterstützen, sondern auch dass die beiden Mächte, die über eine so gewaltige Flottenmacht verfügen, sich selbst daran beteiligen werden, Russland den Weg zu bahnen.

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