Nürnberg 1945: Opfer und Täter gemeinsam im Frühstückszimmer

''Das Zeugenhaus''
''Das Zeugenhaus''(c) ZDF
  • Drucken

Eine bizarre Hausgemeinschaft: Zu Beginn der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse 1945 quartierten die alliierten Sieger Nationalsozialisten und Opfer gemeinsam in einer Villa am Stadtrand ein. Das ZDF bringt heute eine Verfilmung mit Iris Berben: "Das Zeugenhaus."

Die berühmte Nürnberger Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern war 1945 zerbombt, das „Schatzkästlein“ des Dritten Reiches war ein Trümmerfeld. In Nürnberg bereiteten die alliierten Sieger nun die Kriegsverbrecherprozesse vor. Relativ unbeschädigt war die östliche Peripherie der Stadt, der Vorort Erlenstegen, eine idyllische Villengegend. Mitte April 1945 beschlagnahmte eine Verwaltungseinheit amerikanischer Truppen auf der Suche nach bequemen Quartieren, um die Zeugen der Prozesse unterzubringen, einige Villen, die Bewohner wurden in die Keller übersiedelt, das waren sie von den Bombennächten gewohnt, und die amerikanischen Besatzer nahmen die Räume in Beschlag. Mit im Schlepptau hatten sie Ingeborg Kalnoky, eine schöne, blonde ungarische Gräfin, die es auf der Flucht – hochschwanger – nach Nürnberg verschlagen hatte und die wegen ihres unbelasteten Vergangenheit und ihrer Sprachkenntnisse für eine ungewöhnliche Aufgabe engagiert wurde. Sie sollte als „Dame des Hauses“ in der Villa Novalisstraße 24 und in der angrenzenden Villendependance (Nummer 22) die dort einquartierten Gäste betreuen: „Keep it running smoothly“, trugen die Amerikaner der Grande Dame auf. Alles sollte problemlos ablaufen, Konflikte kalmiert werden.

So hatten im Herbst 1945 alle Beteiligten der jahrelang geführten Kriegsverbrecherprozesse ihren fixen Platz: Die Angeklagten im Zellengefängnis des Justizpalastes, einem Sternbau mit vier Flügeln zu je hundert Zellen; die amerikanische Verwaltungseinheit im Grand Hotel am Hauptbahnhof; die Journalisten im Schloss der Bleistiftfabrikanten Faber-Castell im benachbarten Ort Stein; Zeugen und Verteidiger im Villenvorort Erlenstegen unter der Obhut der eleganten Gräfin Kalnoky. Kein Drehbuchautor hätte sich die Konstellation in der Villa bizarrer ausdenken können: Nicht oder noch nicht angeklagte Täter waren hier untergebracht, sie trafen im Stiegenhaus zusammen mit gerade erst befreiten Insassen von Konzentrationslagern, Mitläufer des Naziregimes, von denen man sich belastende Aussagen erwartete, saßen am Esstisch neben Sozialdemokraten, die für ihre politische Gesinnung im Gefängnis gelandet waren, Sekretärinnen und Ehefrauen von angeklagten Nazibonzen benützten dieselben Badezimmer wie die Ehefrauen von Männern, die im Widerstand gestorben waren.

''Das Zeugenhaus''
''Das Zeugenhaus''(c) ZDF

Bis 1980 waren die Verhältnisse im „Zeugenhaus“ kaum bekannt. Der Historiker Werner Maser schrieb in seinem „Nürnberg“-Buch 1977 von dem „von einer Gräfin geleiteten sogenannten Zeugenhaus“, mehr wusste er offensichtlich nicht. Drei Jahre später begann die Journalistin Christiane Kohl mit ihren Recherchen, sie sollten bis 2005 dauern. Anstoß dafür war eine Begegnung mit Bernhard von Kleist, der bei den Nürnberger Prozessen als Dolmetscher tätig war, und dessen Ehefrau Annemarie nach Gräfin Kalnoky Hausdame im Zeugenhaus gewesen war. Christiane von Kohl stöberte die Gästebücher der Villa auf: Bei der Abreise hatten viele Insassen ihre Eindrücke in den wie Poesiealben gebundenen Bänden hinterlassen, Kohl fand auf den vergilbten Buchseiten, „was sich in keiner Gerichtsakte findet: die privaten Ängste und Selbsttäuschungen von Menschen, die während der NS-Zeit mitschuldig wurden, ebenso wie die Bitternis und Wut überlebender Nazi-Opfer.“ (Erinnerung im SPIEGEL 19/1996). 1995 fand Kohl die in Cleveland lebende 87jährige Ingeborg Kalnoky.

Auf diese Weise gelingt die Rekonstruktion der Bewohner des Zeugenhauses, unter ihnen Karl Haushofer, der Lehrer von Rudolf Heß, der 1941 selbst ins Visier der Geheimpolizei geriet, Gestapo-Chef Rudolf Diels, der sich nach dem Krieg als NS-Gegner gerierte, Henriette von Schirach, die Ehefrau des Wiener Gauleiters Baldur von Schirach, der zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, Gisela Limberger, die ehemalige Privatsekretärin Hermann Görings, die Verteidiger der Angeklagten Hjalmar Schacht, Alfred Jodl, Karl Doenitz, dann Fritz Wiedemann, der bis 1939 Hitlers Adjutant gewesen war, Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann, der den unschuldig Verführten spielte. Die meisten von ihnen hatten sich in der nationalsozialistischen Bewegung engagiert, aber irgendwann einen Karrierebruch erlitten und sich der „Bewegung“ entfremdet, daher hofften die Ankläger, von ihnen nützliche Informationen zu erhalten. Daneben die Verfolgten, Insassen aus Konzentrationslagern, auch Carl Severing, der letzte sozialdemokratische Innenminister Preußens. Christiane Kohl sieht einen „Spiegel dieser Zeit“: „Da waren die alten Nazis noch die mächtigen alten Nazis und die Leute aus den Konzentrationslagern fühlten sich irgendwie immer noch als Menschen zweiter Klasse. Während die einen, vom Schlage Hoffmanns, laut und polternd das Abendgespräch dominierten, wurden die anderen Bewohner zuweilen kaum wahrgenommen, wenn sie auf leisen Sohlen das Haus durchquerten.“ (Auszug aus dem Buch von Christiane Kohl, Das Zeugenhaus, das 2005 erschien, die zuvor erschienen Erinnerungen von Ingeborg Kalnoky fanden wenig Beachtung).

"Habe Vernichtungslager mitgeplant – aber mit Anstand"

„Ich war Nazi und bin trotzdem Mensch geblieben. Ich habe Vernichtungslager mitgeplant – aber mit Anstand.“ Der österreichische Schriftsteller Franzobel lässt eine ehemalige Nazigröße diese Worte sprechen, in seinem Theaterstück „Große Kiste oder Das Spiel vom Zeugen“, eine turbulent-grelle Satire über das Nürnberger Zeugenhaus, die eine ernsthafte Schulddebatte vermengt mit den typischen Franzobel'schen Kalauern, insgesamt eine „infantile Nullnummer“ (Deutschlandradio Kultur). Christiane Kohl hat sich von dem 2009 in Nürnberg aufgeführten Stück distanziert.

Nun hat also das ZDF das abgründige Thema „nach Motiven des Buches von Christiane Kohl“ aufgegriffen, es soll der Auftakt einer Reihe von Produktionen zum bevorstehenden Gedenken an 1945 sein. Die illustre Schar der Schauspieler reicht von Iris Berben, Gisela Schneeberger, Matthias Brandt, Tobias Moretti, Edgar Selge bis zu Udo Samel. Man darf auf Moretti als glatt-kalten Gestapo-Chef und Samel als schmierigen Hitler-Fotografen gespannt sein. Iris Berben spielt mit makelloser Frisur, Nylonstrümpfen und Seidenblusen die Gräfin Kalnoky, hier Gräfin Belavar. Oliver Berben ist Produzent, Regisseur Matti Geschonneck blendet Archivaufnahmen aus den befreiten Konzentrationslagern ein. Die FAZ konstatiert im Spiel der Schauspieler „bleierne Statik“, die schuldhafte Verstrickung „rückt ins Anekdotische“. Das hat man bereits dem Buch von Christiane Kohl vorgeworfen, die willkürlich anmutende Aneinanderreihung von bedrückender Historie und nettem Anekdotenklatsch. 2007 starb George Tabori. Man hätte ihm das Thema anbieten müssen.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.