Depressionen am Arbeitsplatz

Die große graue Wolke: Jede fünfte Frau und jeder zehnte Mann kennt sie. Im Job kann sie rasch existenzbedrohend werden.

Mensch, ist der komisch drauf“, dachte sich Norbert Dörner, Landesvertriebsleiter und früherer HR-Chef der Allianz Elementar, schon einmal über einen Kollegen. „Da bekommt man Antworten, die man nicht von ihm gewohnt ist – flapsig, zurückweisend, brüsk. Aber erst, wenn man die Diagnose auf der Krankmeldung in Händen hält, denkt man: Das hätte ich merken müssen.“

„Depressive Episoden“ (zwei Millionen Befunde 2012) liegen nach Bluthochdruck (6,4 Millionen Befunde) auf Rang zwei der heimischen Krankheitsstatistik. 2,5 Millionen Antidepressiva wurden 2012 verschrieben, 30 Prozent davon in Wien. 17 Prozent der Österreicher (20 Prozent weltweit) lernen die große graue Wolke zumindest einmal im Leben kennen, Frauen doppelt so oft wie Männer. Jede fünfte Frau hat schon mit ihr Bekanntschaft gemacht, aber nur jeder zehnte Mann. Auch wenn das „typische“ Auftrittsalter zwischen 25 und 44 Jahren liegt (Ursachen sind dann meist Stress und Versagensängste), ist die zahlenmäßig größte Gruppe die der 40- bis 54-Jährigen. Der Anteil der unerkannten und daher unbehandelten Depressionen wird auf 60 Prozent geschätzt.

Genug der Zahlen, sie helfen den Betroffenen nicht weiter. Mehr nützt ihnen das Verständnis ihrer Umwelt: „Viele Betroffene blocken ab und sagen: ,Es ist nichts‘, wenn man sie direkt anspricht“, seufzt Ulli Caravias-Krones, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie. Sie zögen sich zurück und könnten sich nicht eingestehen, Hilfe zu brauchen – eine fatale Nebenwirkung des Serotonin- und Noradrenalin-Ungleichgewichts im Gehirn. Zu den psychosomatischen Symptomen (typisch: Kopfschmerzen, Übelkeit, Herzflattern, Zittern, Darmstörungen) kämen bröckelndes Selbstwertgefühl, Entscheidungsschwäche, schwindende Kreativität und „zähflüssiges“ Denken: „Depressive befürchten oft, dement zu werden. Sie merken sich einfach nichts mehr.“

Äußere Verstärker

Alles zusammen nicht gerade das, was der Boss von seinen Leuten erwartet. Was wiederum die Angst vor Jobverlust schürt. Ganz böse wird es, wenn Chef und Unternehmen die äußeren Verstärker der inneren Misere sind. Einsparungsmaßnahmen, Mobbing und Druck von oben hätten schon so manchen einschlägig veranlagten Kandidaten vollends kippen lassen, erzählt die Psychiaterin: „In einem Fall machen heute drei Frauen den Job, den früher 15 gemacht haben. Wie soll denn das gehen?“ Da helfe nur aufstehen und sich wehren: „Betriebsrat und Gewerkschaft müssen einspringen, wenn der Betroffene das nicht mehr kann“, gibt sie sich kämpferisch. „In Österreich haben wir ein funktionierendes Arbeitsrecht. Man muss sich nicht alles gefallen lassen.“ Der Haken: Gerade während eines depressiven Schubes reicht die Energie nicht fürs Kämpfen.

„Reiß dich zusammen!“

Was also tun, wenn es den Kollegen oder Mitarbeiter „erwischt“ haben könnte? Keine Laiendiagnose stellen, warnt die Psychologin und künftige Psychotherapeutin Neena Kurl: „Das sollte man sich nicht umhängen.“ Jedoch sollte man hinterfragen, ob der Betroffene aufgrund kritischer äußerer Lebensumstände (wie Scheidung oder Trauerfall) temporär geknickt sei. Halte die veränderte Stimmung mehr als zwei Wochen an, sollte man das Gespräch suchen. Aber bitte behutsam: Der gut gemeinte Rat „Reiß ich zusammen“ lasse den Erkrankten nur noch tiefer in sich hineinkriechen. Ein geduldiges „Komm, rede mit mir“ und sich nicht abschütteln lassen gebe ihm zumindest Halt.

Häufen sich die Symptome, sollte ein Arzt beigezogen werden. Doch wie bringt man den Kollegen dorthin, wenn der abblockt, was häufig der Fall ist? Kurl: „Firmenarzt oder neutrale Dritte fragen!“

Leicht ist der Behandlungsweg nicht. Vor der eigentlichen Therapie müssen körperliche Erkrankungen ausgeschlossen werden. Da oft mehrere Diagnosen zutreffen, folgt eine Liste von Facharztterminen und schließlich die Wahl des passenden Seelendoktors: Ein Psychologe dürfe eng begrenzte krankheitswertige Prozesse behandeln, jedoch keine Psychopharmaka verschreiben – ebenso wenig wie ein Psychotherapeut, der sich den größeren seelischen Themen widme. Ein Psychiater wiederum dürfe verschreiben, eine Therapie aber nur bei entsprechender Zusatzausbildung leiten. Je nach Schweregrad kämen auch Physiotherapie (etwa Massage, Yoga, Atemübungen) und soziotherapeutische Maßnahmen zur Stärkung und Schulung des Umfeldes (auch der Kollegenschaft zum Umgang mit den Erkrankten!) zum Einsatz. Dank moderner Behandlungsmethoden stünden die Genesungschancen gut.

Es gibt Arbeitgeber, die ihren Leuten auch in dunklen Zeiten die Stange halten: „Wir füttern sie durch“, bekennt Allianz-Ex-Personalchef Dörner, „und wenn sie zurückkommen, nehmen wir ihnen Workload ab und stellen ihnen einen Unterstützer zur Seite.“ Wenn das nur alle täten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2013)

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