Als der Walzer »dirty« war

Wiener Blut
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Kein Ball ohne Paartanz: Wie das Tanzen zu zweit aufkam, der Walzer als »Dirty Dancing« begann und subversive Tänze von Tango bis Foxtrott von Europa »gezähmt« wurden.

Für Pythagoras verbindet Tanzen den Menschen „mit der Schöpfung und dem Universum“. Für den in den 1920er-Jahren rührigen Kunst-Schriftsteller André Warnod hat Tanzen zwar auch mit dem Universum zu tun, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Es ist „das Universum, reduziert auf ein Paar“.

Trotz aller Solotanzkultur in den Discos denken heute noch viele Tanzbegeisterte so – auch wenn die totale Reduktion auf das Paar wohl cum grano salis gemeint ist. Man erlebt sie im soeben auf Deutsch erschienenen Roman „Hier, am Ende der Welt, lernen wir tanzen“ von Lloyd Jones, wo ein Mann mit einer Frau jahrelang zurückgezogen in einer Wohnung Tango tanzt. In der Regel aber verliert jeder Tanz ein wenig an Reiz, wenn die Selbstinszenierung vor Publikum fehlt.

Ohne oder mit Publikum – der Paartanz blüht in Europa, auch wenn es längst so viele andere Möglichkeiten der Partnerfindung gibt. Dabei ist er in der Weltgeschichte des Tanzens nur eine winzige Episode. „Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts begannen in gehobenen Kreisen Mann und Frau in engerem Körperkontakt zu tanzen. Die Alleinherrschaft auf den Tanzflächen übernahm der enge Paartanz sogar erst nach 1900“, schreibt Claudia Teibler in ihrer wunderbar illustrierten Tanzhistorie „Darf ich bitten“. Und schon die 60er- und discobegeisterten 70er-Jahre schienen ihn wieder wegzufegen. Stattdessen allerdings erlebte der Paartanz mit den lateinamerikanischen Tänzen wieder ein Revival nach dem anderen.

Vor dem 18. Jahrhundert gab es nur rudimentäre Vorläufer – etwa die von mittelalterlichen Troubadouren entwickelte Estampie, bei der ein Mann und eine Frau zu Instrumentalmusik tanzten. Und in Gruppentänzen sonderten sich besonders im süddeutschen Raum allmählich für kurze Sequenzen Einzelpaare ab. An den Höfen entstanden Quadrille, Menuett, Contredanse und andere in Gruppen getanzte Paartänze, bei denen das Paar sich höchstens an den Händen berührte. In Mozarts „Don Giovanni“ tanzen Don Ottavio und Donna Anna das grazile Menuett, Don Giovanni und Zerlina die von englischen Volkstänzen inspirierte derbere Contredanse – und Leporello und Masetto? Die tanzen zu einem Vorläufer des Walzers.

Die Walzer-Revolution.
Dieser Tanz brachte damals, Ende des 18. Jahrhunderts, eine Revolution von unten. Ausgerechnet der Walzer, der heute auf Bällen für altmodische Kultiviertheit steht, begann als unschickliche Angelegenheit und gegen jede Konvention. Wenn Goethes Werther mit Lotte „walzt“, war das für jene Zeit fast eine Art „Dirty Dancing“. Zum ersten Mal groß präsentiert wurde der Walzer 1787 bei einer Opernaufführung in Wien, international berühmt machte ihn nicht zuletzt der Wiener Kongress. Aber dem russischen Zaren, der angeblich von 40 durchgetanzten Nächten krank wurde, war sicher nicht vom Walzer schwindlig, denn gewalzt wurde aus Respektsgründen erst spätabends, wenn die Herrscher das Parkett verließen. Dabei wurde der Walzer früher weniger eng und viel langsamer als heute getanzt; Strauss-Walzer sind zum Teil doppelt so schnell wie Carl Maria von Webers „Aufforderung zum Tanz“ von 1819, eine der ersten in Europa verbreiteten Walzermelodien.

Der Walzer war der erste Tanz in durchgehend geschlossener Paarhaltung, er löste den Gruppentanz auf. Und er ist der einzige über 200 Jahre alte Tanz, der noch weltweit in Tanzsälen getanzt wird.

Von „Revolutionen von unten“ hat die europäische Tanzkultur immer profitiert, nicht zufällig kommen Wörter wie „tanzen“, „dance“, „dancer“ vom mittellateinischen „danetzare“, „sich auf der Tenne vergnügen“. Was heute die Disco als Tanztreff, war bis zur Renaissance die Scheune.

„Brav“ gemachte Tänze.
Revolutionen „von unten“, die gezähmt wurden, haben die Standardtänze hervorgebracht. Der Foxtrott etwa ist ein Relikt der afroamerikanisch geprägten „Schiebe- und Wackeltänze“, die in den „Roaring Twenties“ für moralische Empörung sorgten. Allerdings wurde er einfach und „brav“ gemacht; dasselbe gilt für die „lateinamerikanischen“ Tänze. Der Tango wurde zwar in Buenos Aires als Slum- und Bordell-Phänomen geboren, eroberte aber erst nach 1900 mithilfe eines französischen Tanzlehrers von Paris aus die Metropolen inklusive die besseren Kreise von Buenos Aires. Von dort kam allerdings auch Spott über den französisierten Tango mit seinen übertriebenen Verrenkungen. Erst die Engländer brachten ihn in eine ruhige, elegante Form. Der Samba hatte seinen Durchbruch in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, in stark vereinfachter Form ohne die extremen Hüft- und Beckenbewegungen. Als „Vater“ von Rumba und Cha-Cha-Cha wiederum gilt der in London tätige Franzose Pierre Zurcher Margolie. Er leitete aus kubanischen Tänzen leichtere Schritte ab; die Grundschritte und viele Figuren des Rumba gehen ebenso auf ihn zurück wie der Cha-Cha-Cha.

All diese Tänze wurden so lange für den hüftsteifen, durchschnittlich tanzenden Europäer adaptiert, dass sie heute wenig Lateinamerikanisches an sich haben. Dafür sind sie für viele tanzbar geworden. Und wer dabei trotzdem „versagt“, blamiert sich auf heutigen Bällen meist höchstens vor seinem Tanzpartner. Beim geometrisch geordneten Gruppentanz war das noch anders. Die Unordnung beim Tanzen mag oft lästig sein – aber sie macht es auch menschlicher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2014)


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