Romeo und Julia im Gemeindeamt

Nona Shepphard am „einzig theatralen Ort des Dorfes“.
Nona Shepphard am „einzig theatralen Ort des Dorfes“. (c) Luiza Puiu
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Die Schauspielschule Rada, die seit Jahren zum Forum Alpbach kommt, hat mit den Alpbacher Balkonen ihre perfekte Bühne gefunden - und spielt dort etwa die berühmte Szene aus "Romeo und Julia", die eigentlich gar nicht auf einem Balkon spielt. Nur die Blumen stehen der Dramatik manchmal im Weg.

In ihrem kollektiven historischen Gedächtnis hat wohl jede Nation eine – wenn nicht noch mehr – berühmte Balkonszene. Man denke an Evita in ihrer Casa Rosada, Lady Diana und Prince Charles, wie sie sich am Hochzeitstag am Balkon des Buckingham Palace zeigen, oder Leopold Figl mit dem Staatsvertrag in der Hand und dem kolportierten Ausspruch „Österreich ist frei!“ (was er freilich gar nicht auf dem Balkon sagte, sondern davor im Belvedere). Beachtete Balkonszenen lieferte aber auch die Weltliteratur – und Nona Shepphard will nicht ausschließen, dass, wären Architekten nicht auf die Idee gekommen, Balkone zu bauen, Theatermacher diese vielleicht erfunden hätten.

Die Regisseurin und Dramatikerin ist zum sechsten Mal mit Studenten der Royal Academy of Dramatic Arts (Rada), einer der renommiertesten Schauspielschulen Großbritanniens, auf der Stars wie Ralph Fiennes und Anthony Hopkins ausgebildet wurden, in Alpbach zu Gast – und wird ab morgen acht Tage lang immer mittags den Balkon des Gemeindeamts mit kurzen Szenen bespielen. Die Alpbacher Balkone seien immerhin auch „der einzige theatrale Ort im Dorf“: Nach Aufführungen im Hallenbad („Die Akustik war absolut schrecklich!“), Feuerwehrhaus und Congress Centrum hat Shepphard nun also ihre perfekte Bühne gefunden.

Julia hatte gar keinen Balkon

Den Anfang macht die Rada-Truppe mit einer Szene, die zwar berühmt ist wie keine andere, in der tatsächlich aber nie von einem Balkon die Rede war: Shakespeare ließ Julia im Originaltext nämlich nur durch ein Fenster mit Romeo flirten. Balkone waren zu Shakespeares Zeiten in England überhaupt ein weitgehend unbekanntes Konzept – als sie im 17. Jahrhundert den Einzug in die britische Architektur fanden, hielten sie viele für skandalös: Wohlhabende englische Mädchen hatten sich damals zuhause zurückzuziehen. Dass sie durch Fenster die Außenwelt beobachteten, war akzeptiert, dass sie sich dieser in Balkonen auch zeigten – wie die als zu freizügig verschrienen Italienerinnen in ihren schon länger bestehenden Balkonen –, nicht.

Wie kommt es dann, dass „die Balkonszene“ mit so berühmten Zeilen wie „O Romeo, Romeo! Wherefore art thou Romeo?“ sich so in unser Kulturverständnis eingebrannt hat? Dass sie auf Youtube hundertfach mit Haustieren und Lego-Figuren nachgespielt wird, dass in Verona, wo das Stück spielt, Shakespeare selbst aber niemals war, gar Anfang des 20. Jahrhunderts ein steinerner Balkon an das angebliche Haus der Julia geklatscht wurde, auf dass sich Touristen dort vor der romantischen Kulisse fotografieren können?

In Alpbach wird's romantisch

Eine Theorie besagt, dass der englische Dramatiker Thomas Otway, der sich im 18. Jahrhundert für sein Stück „The History and Fall of Caius Marius“ an Handlung und Dialogen von „Romeo und Julia“ bediente, erstmals einen Balkon in die Szene einbaute. Zeitweise war seine Version der Geschichte in den englischen Theatern beliebter und wurde öfter gespielt als Shakespeares Original. Als „Romeo und Julia“ später wiederbelebt wurde, wurde der Balkon von Otway übernommen und fand von da an seinen Weg in die meisten „Romeo und Julia“-Inszenierungen.
Shepphard meint, dass Julia in frühen Inszenierungen in Shakespeares Globe-Theater vermutlich sehr wohl von einer Art Balkon aus den unten stehenden Romeo anschmachtete – nämlich aus der Galerie, in der die Bühnenmusiker untergebracht waren. Wissen kann man es nicht.

Shakespeare hat sowieso nie Regieanweisungen geschrieben.“ Sie hat die Szene in ihrer Laufbahn schon auf unterschiedlichste Art inszeniert, einmal in einem Indien-Setting, einmal in einem aus Brettern gebauten Balkongerüst und mit rivalisierenden Gangs, die an „West Side Story“ erinnerten. Ihre Alpbacher Inszenierung soll vor allem romantisch werden – dafür sorgen das dunkle Holz und die Blumen.

Daneben ist für die nächsten Tage u. a. eine Szene aus Sophokles‘ „Antigone“ geplant (den Balkon hat Shepphard dazu interpretiert), dazu Szenen, die die Schauspielstudenten (die ihr zweites Ausbildungsjahr gerade hinter sich haben) selbst geschrieben haben. Eine Studentin, die in einer Sozialbausiedlung in South London aufgewachsen ist, erinnerte sich dafür an die zwischen Balkonen hin- und hergebrüllten Konversationen, die sie mit ihrer Freundin aus dem Nachbarhaus hatte. In einer anderen Szene wird Schneewittchen vom Kuss des Prinzen geweckt: „Die Alpbacher Balkone sind so süß, oder etwa nicht?“, meint Shepphard. „Auch Schneewittchen hat etwas Süßes.“

„Balkone sind suizidgesichert“

Die vorhin erwähnten Blumen haben übrigens die Pläne für eine andere Balkonszene vereitelt: Shepphard hatte erwogen, eine Szene aus dem russischen Stück „Der Selbstmörder“ für die Balkonbühne zu adaptieren – und einen Darsteller vom Balkon springen zu lassen. Doch dafür sind die üppigen Blumenkisten auf dem Balkongeländer im Weg, die die Schauspieltruppe nicht entfernen durfte – zu verwachsen sind die Blumen, zu komplex das Bewässerungssystem. Was Shepphard zu gefährlichen Scherzen ermuntert: „Die Alpbacher Balkone sind suizidgesichert!“

Am Sonntag eröffnet die Rada-Theatertruppe zudem die Rechtsgespräche mit einer künstlerischen Intervention. Wie, daran arbeitet Shepphard noch: Die Herausforderung sei, einen interessanten, artistischen Zugang zu einem Thema zu finden, zu dem viele im Raum weitaus mehr Wissen haben als sie. Auch die Balkonszenen werden erst im Lauf des Forums fixiert und geprobt. Auswahl – vom Balkonsturz in Nestroys „Der Zerrissene“ bis zum „Besuch der alten Dame“ – bietet die Literatur jedenfalls genug.

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