Den Krieg aus Kopf und Klassenzimmer vertreiben

Niedrigschwellige Intervention ist das Kernstück eines neuen Ansatzes zur Traumabewältigung, der in afrikanischen Krisenregionen entwickelt wurde. Sabine Kampmüller bringt ihn an hiesige Schulen und hilft so Kindern, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen.

Um zu lernen, braucht man Ruhe im Kopf, doch Kriegstraumata verunmöglichen diese. Knapp 20.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche gehen in Österreich zur Schule – ein Drittel davon in Wien. Viele von ihnen tragen einen unsichtbaren Rucksack voll mit furchtbaren Erfahrungen. „Sie konnten den Krieg nicht zurücklassen“, sagt Sabine Kampmüller von der FH Joanneum, Vorsitzende von „Afya“, einem Verein zur interkulturellen Gesundheitsförderung.

Sie war als Pionierin für Innovation im Bereich der psychischen Gesundheit zum Forum Alpbach geladen, wo sie Anfang der Woche das Projekt „Kräfte stärken – Trauma bewältigen“ vorstellte. Damit ist es gelungen, vorhandenes Fachwissen auf eine praktische Ebene zu heben und erfolgreich einzusetzen. „Wie bei allen psychischen Belastungen ist die Hürde, Hilfe zu suchen, auch bei einem Trauma sehr hoch“, so Kampmüller. Das Tabu sei immer noch groß und entsprechend schwer wäre es, sich einzugestehen, selbst betroffen zu sein. „Vor allem Eltern wollen es nicht wahrhaben, dass ihre Kinder psychische Probleme haben“, ergänzt Kampmüller. „Deshalb gehen wir auf die Betroffenen zu und kommen direkt an die Schulen mit einem hohen Anteil an geflüchteten Kindern und Jugendlichen.“

Dieser aufsuchende Ansatz ist ebenso ungewöhnlich wie die Arbeit mit nicht-professionell ausgebildeten Trainerinnen und Trainern. Diese vermitteln den Betroffenen Techniken und Werkzeuge, um die Kontrolle über Traumafolgen wie Albträume, Flashbacks, Verwirrung oder Angstzustände zu gewinnen. „Sie sind zwar keine Experten, haben aber dieselben Sprach- und Kulturkompetenzen wie die Kinder, kommen also aus den jeweiligen Communitys.“ Das ermögliche eine besondere Vertrauensbeziehung – auch weil diese die jeweiligen Konzepte rund um Gesundheit aus den Herkunftsländern kennen und verstehen würden. Dabei geht es etwa um Wissen darüber, welche Auslöser von psychischer Gesundheit dort als akzeptabel gelten oder für welche Verhaltensweisen es mystische Erklärungen gibt.

Diese Art früher Intervention bei Traumata hat Kampmüller aus afrikanischen Krisenregionen nach Österreich gebracht. Mit „Ärzte ohne Grenzen“ war sie für humanitäre Einsätze u.a. in Kenia, im Sudan und in Uganda. „Ich hatte dort viel mit traumatisierten Menschen zu tun und erlebte, wie internationale Organisationen vor Ort lernen mussten, schnell zu agieren und niedrigschwellige Ansätze ohne ausgebildete Experten zu entwickeln.“

Als die Anzahl an Menschen, die in Österreich Asyl suchten, 2015 plötzlich sprunghaft anstieg, erinnerte sich Kampmüller an ihre Erfahrungen in Ostafrika – und gründete angesichts der an allen Ecken und Enden fehlenden Therapieplätze den Verein „Afya“. Das Ziel: Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Bildung bei kriegstraumatisierten Kindern und Jugendlichen auch ankommt. „Traumatisierung führt zu einem Dauerzustand von Stress und Erregung. Das macht es unmöglich, sich zu konzentrieren und zu lernen.“

Der innovative Ansatz wird nicht nur beklatscht. Mitunter muss sich der Verein wegen der Zusammenarbeit mit Laien den Vorwurf anhören, unverantwortlich zu handeln. Kampmüller will die Arbeit von „Afya“ jedoch nicht als Therapie missverstanden wissen: „Sich professionelle Hilfe zu suchen, ist ein großer Schritt, wir holen die Zielgruppe ab, sensibilisieren die Eltern, brechen Tabus und schaffen eine erste Stabilisierung durch verhaltenstheoretische Konzepte.“ Bei Bedarf auf eine professionelle Therapie weiterzuverweisen, sei selbstverständlich.

200 Kinder erreichte das Programm im vergangenen Schuljahr – nun soll es auch in den Bundesländern ausgerollt werden. Für das mit öffentlichen Geldern geförderte Projekt wurde „Afya“ heuer mit dem SozialMarie-Preis für soziale Innovation ausgezeichnet. „Die Evaluierung unseres achtwöchigen Programms hat gezeigt, dass sich die klassischen Traumasymptome dadurch signifikant verbessern“, freut sich die Vereinsobfrau. Im Kopf der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler sei wieder Ruhe eingekehrt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2019)

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