Die kurdisch-dominierte SDF-Allianz steht mit Hilfe von US-Truppen und internationalen Luftangriffen angeblich kurz vor der Einnahme der nordsyrischen Stadt. Syrische Regierungskräfte könnten vor einem Vorstoß von Westen her stehen.
Die seit Anfang November anhaltende Offensive "Zorn des Euphrats" der multiethnischen Allianz "Syrian Defence Forces" (SDF), verbündeter lokaler Milizen und westlicher Truppen gegen die IS-"Hauptstadt" Raqqa im Euphrat-Tal in Nordsyrien scheint unmittelbar vor dem Durchschlag zu stehen: Berichten diverser Beobachter, allen voran der SDF, sollen sich am Freitag Führungselemente und kämpfende Einheiten des "Islamischen Staats" aus der Stadt absetzen oder sich zur Flucht vorbereiten.
In der sunnitisch dominierten Stadt mit ihren - vermutlich - zuletzt rund 200.000 Bewohnern sollen sich "mehrere Tausend" IS-Militante befinden, die Rede ist häufig von etwa 5000. Wie vergleichsweise wenige Fanatiker so ungleich viele Stadtbewohner so lange in Schach halten können (Raqqa wurde von IS und der al-Nusra-Front im Sommer 2013 übernommen), ist indes eine andere Frage.
Die Kräfte der SDF - sie umfassen vor allem kurdische Einheiten (YPG und YPJ) zuzüglich sunnitischer, armenischer, assyrischer, turkmenischer und anderer Milizen - sowie weiterer alliierter "Privatarmeen" und Gemeindemilizen sollen mehr als 30.000 Mann zählen.
Syrischer Vorstoß längs des Euphrat-Tals?
Teile der 17. Syrischen Mechanisierten Division (einige Tausend Mann) befinden sich weiter entfernt flussabwärts im Euphrat-Tal bei Deir ez-Zor, und neue Regierungskräfte sollen ebenfalls am Freitag von Aleppo her kommend den Euphrat weiter stromaufwärts beim Assad-Stausee erreicht haben; sie könnten jetzt theoretisch den See am Südufer durch formal IS-kontrolliertes Land umfahren und auf Raqqa vorstoßen, das grob gesagt 130 Kilometer (Straßendistanz) entfernt im Osten liegt.
Westliche, russische und andere Kampfflugzeuge hatten in den vergangenen Wochen ihre Angriffe auf Raqqa intensiviert. Seit Langem sind im Umland und am Stadtrand westliche Spezialkräfte aktiv, etwa der britische SAS (Special Air Service): Bekannt wurde unter anderem eine Aktion dieser im Zweiten Weltkrieg gegründeten Truppe, bei der ein SAS-Scharfschütze im September 2016 auf angeblich 1500 Meter Entfernung in einem Dorf bei Raqqa einen IS-Exekutor zur Strecke brachte, der sich eben angeschickt hatte, ein Dutzend Gefangener mit einem Flammenwerfer zu verbrennen. Das Geschoss des Snipers traf seinen Flammölbehälter, der explodierte, worauf der Henker samt zwei Kollegen selbst in den Flammen umkam. Die Geiseln wurden von Briten und Amerikanern befreit.
US-Marines und Rangers kommen
Erst in den vergangenen Tagen waren im Gebiet der SDF-Truppen, die von Norden, Osten und Westen her auf Raqqa vorrücken, mindestens 400 US-Marines mit schwerer Artillerie (britische Feldhaubitzen M777, Kaliber 155 Millimeter, Schussweite > 24 km) sowie Teile des 75. Ranger-Regiments der US Army mit gepanzerten Fahrzeugen aufgetaucht. Sie waren über Kuwait auf ein Flugfeld im syrisch-irakischen Grenzgebiet eingeflogen worden, das im Vorjahr für eine künftige Offensive auf Raqqa und Mossul gleichermaßen gesichert und ausgebaut worden war. Zuvor waren bereits mindestens 500 US-Soldaten in Syrien, etwa als Militärberater, Feuerleitoffiziere, Bautruppen und für Kommandoeinsätze.
Die äußerst mobilen Rangers haben jedoch auch - wenn nicht sogar vorrangig - den Auftrag, im Raum um die Stadt Manbij, rund 110 Kilometer nordwestlich von Raqqa unweit der Türkei, eine Art Pufferzone zwischen Truppen der SDF, syrischen, türkischen und von der türkischen Armee unterstützten Rebellen zu besetzen - es geht vor allem darum, befürchtete Angriffe seitens der türkischen Seite auf die SDF, also im wesentlichen die verhassten Kurden, abzuschrecken. In dem Gebiet sind übrigens auch russische Einheiten im Einsatz, wie Aufnahmen zeigen, insgesamt ist die Lage dort verdammt kompliziert.
Flucht nach Süden in die Wüste?
Wohin der IS als kämpfender Verband aus Raqqa fliehen könnte, ist indes unklar. Die SDF-Offensive ist mittlerweile tief ins Euphrat-Tal westlich und östlich der Stadt eingedrungen (zuletzt wurde am 9. März der strategisch wichtige "East Menxer Hill" am Ostrand Raqqas erobert) und dürfte sie großräumig isoliert und von anderen größeren IS-Zentren wie dem schwer umkämpften Mossul im Nordirak und Deir ez-Zor in Ostsyrien abgeschnitten haben.
Bleibt eigentlich nur das Ausweichen in Richtung Süden. Dort aber erstrecken sich die öden, spärlich besiedelten Weiten der zentralsyrischen Wüste, durch die man mit Fahrzeugen abseits der ganz wenigen Hauptstraßen schwer vorankommt und für Luftangriffe wie auf dem Präsentierteller erscheint. Außerdem grenzen dort noch weiter im Süden und Westen wieder von der syrischen Regierung und russischen Kräften beherrschte Zonen an, etwa die Oasenstadt Palmyra.
(wg)