Wo Erdoğan seine Freunde hat – und wo seine Gegner

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Die Türken haben vor allem in jenen Ländern für die Präsidialrepublik gestimmt, in die sie als Gastarbeiter gekommen sind.

Wien/Ankara. Seit die Ergebnisse des Referendums in der Türkei über die Einführung einer Präsidialrepublik bekannt sind, ist das Nein-Lager empört über das Abstimmungsverhalten ihrer Landsleute im Ausland. Der in den sozialen Medien tausendfach geteilte Tenor lautet: Die Türken im Ausland haben über das autoritäre System im Inland entschieden, dessen Folgen sie nur peripher betrifft. Nun, von den drei Millionen stimmberechtigten Türken in der Diaspora haben der Wahlbehörde zufolge 1,5 Mio. abgestimmt.

In Österreich lag die Anzahl der Ja-Stimmen – gleich nach Belgien – am zweithöchsten: von den abgegebenen rund 52.180 Stimmen waren 73 Prozent für die Einführung der Präsidialrepublik. In den vergangenen Wochen hat das Ja-Lager in Österreich massiv mobilisiert und ist mit einem „Wahlbus“ quer durch die Alpenrepublik gefahren, um auch die Menschen zu erreichen, die sonst nicht das Generalkonsulat aufgesucht hätten. Zudem hat die Regierungspartei nach den Auftrittsverboten für AKP-Minister in mehreren europäischen Ländern das Referendum zu einer Grundsatzfrage stilisiert: Türkei oder Europa?

In europäischen Ländern, die ab den 1960er-Jahren eine aktive Arbeitsmarktpolitik betrieben und Türken als sogenannte Gastarbeiter ins Land geholt haben, ist der Ja-Anteil hoch ausgefallen. Neben Österreich betrifft das eben Belgien, die Niederlande, Deutschland und Frankreich. Damals haben sich vor allem Arbeiter aus der ländlich geprägten Türkei rekrutieren lassen; sie sind sowohl in der Türkei als auch im Ausland die Stammwählerschaft der regierenden AKP. Auch der Anteil der ethnischen und religiösen Minderheiten reflektiert in diesen Ländern ungefähr die Lage in der Türkei selbst. Nach dem Militärputsch 1980 sind viele Aktivisten aus dem linken Spektrum geflohen und als Flüchtlinge nach Europa gekommen, in den oben genannten Ländern sind sie zahlenmäßig den „Gastarbeitern“ unterlegen. Sie sind eher im Nein-Lager auszumachen, allerdings sind sie auch eher bereit, aufgrund ihrer Fluchtgeschichte die Staatsbürgerschaft der Aufnahmeländer anzunehmen und erscheinen daher nicht im türkischen Wahlregister.

Interessant ist die Lage in der Schweiz, wo von knapp 50.400 Stimmen 62 Prozent an das Nein-Lager ging. Der Anteil der Aleviten, die traditionell als AKP-Gegner gelten, ist hier höher als im Türkei-Durchschnitt. Darüber hinaus galt die Schweiz für viele linke und liberale Aktivisten nach dem Putsch 1980 als Ziel Nummer eins, auch das lässt sich am Abstimmungsverhältnis ablesen.

Anderes Ergebnis in USA und Kanada

In Großbritannien haben von rund 35.400 Stimmen noch mehr für Nein gestimmt: 80 Prozent. Die türkischen Zyprioten sind hier traditionellerweise sehr stark vertreten, und für ihre Betriebe und Geschäfte haben sie vor allem aus der Türkei Arbeiter angeworben. Auch durch den Einfluss der türkischen Zyprioten gilt die türkeistämmige Community in Großbritannien als wenig konservativ. Mit 55 Prozent haben die Türken in Nordzypern auch für ein Nein gestimmt.

Ebenfalls in Großbritannien, aber vor allem in Ländern wie USA, Kanada oder Vereinigte Arabische Emirate sind besser ausgebildete Türken zu finden, die aus geschäftlichen oder bildungspolitischen Gründen ausgewandert sind. In den Emiraten stimmten 87 Prozent der Türken gegen die Präsidialrepublik, in den USA lag der Nein-Anteil bei 84 Prozent, in Kanada bei 72 Prozent. In Europa zeigt sich auch, dass in Ländern mit eher jüngerer türkischer Zuwanderung der Anteil der AKP-Gegner und -Skeptiker überwiegt. Über 80 Prozent der Stimmberechtigten haben in Irland und Tschechien gegen die Präsidialrepublik gestimmt, über 70 Prozent in Polen und Ungarn. (duö)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2017)

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