Hunderttausende gegen Erdoğan

Adalet – „Gerechtigkeit“  – forderten Anhänger von CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu bei einer Großkundgebung in Istanbul, die die Endetappe des 25-tägigen Marsches des Erdoğan-Kritikers markierte.
Adalet – „Gerechtigkeit“ – forderten Anhänger von CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu bei einer Großkundgebung in Istanbul, die die Endetappe des 25-tägigen Marsches des Erdoğan-Kritikers markierte.(c) REUTERS (OSMAN ORSAL)
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Mit einer Großkundgebung in Istanbul beendete der Oppositionelle Kemal Kılıçdaroğlu seinen "Marsch der Gerechtigkeit". Der Präsident spricht von "Verrätern" und will nicht auf die Forderungen der Demonstranten eingehen.

Istanbul. Mehr als eine Million begeisterte Menschen mit Fahnen, Plakaten und Transparenten – Massenkundgebungen wie die im Istanbuler Stadtteil Maltepe am Sonntag waren in der Türkei bisher ein Markenzeichen der Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Diesmal aber versammelten sich die Gegner des Staatschefs und machten damit Druck auf den Mann an der Spitze des Staates. Oppositionschef Kemal Kiliçdaroğlu kündigte an, Erdogans „Mauer der Furcht“ niederzureißen.

Regierungsgegner sprechen von einer historischen Wegmarke und schöpfen neue Hoffnung. Der machtgewohnte Erdoğan sieht sich der größten Massenbewegung seit den Gezi-Protesten vor vier Jahren gegenüber.

Unter dem Motto „Gerechtigkeit“ war Kiliçdaroğlu in den vergangenen Wochen von der Hauptstadt Ankara nach Istanbul marschiert. Der in seiner eigenen säkularen Partei CHP umstrittene 68-Jährige erwarb sich mit der Aktion nicht nur den Respekt interner Kritiker, sondern auch die Unterstützung vieler Türken über die Parteigrenzen hinweg.
Anlass für Kiliçdaroğlus 420-Kilometer-Marsch war die Inhaftierung des CHP-Parlamentsabgeordneten Enis Berberoglu, der in einem Gefängnis in Maltepe einsitzt. Doch der „Marsch für Gerechtigkeit“ mutierte mit jedem zurückgelegten Kilometer zu einem universellen Ausdruck des Widerstandes gegen Erdoğan. Nach der Entlassung von 150.000 Beamten und der Inhaftierung von mehr als 50.000 Menschen seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres spricht Kiliçdaroğlu mit seinem Ruf nach Gerechtigkeit vielen Türken aus der Seele.

„Heute ist die Türkei eine Diktatur“

Der Oppositionschef hielt seine Rede bei der Abschlusskundgebung in Maltepe auf einer Bühne, auf der das Wort „Adalet“ – Gerechtigkeit – prangte. Er sprach vor einer gewaltigen Menschenmenge; Schätzungen gingen von 1,5 Millionen bis zwei Millionen Teilnehmern aus.
Die Mammut-Versammlung blieb friedlich und wurde von einer Aufbruchstimmung geprägt, die neu ist für die türkische Opposition. Die Demonstranten trugen türkische Fahnen, Transparente mit dem Bild des säkularen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk und weiße T-Shirts mit der Aufschrift „Adalet“. CHP-Anhänger vergleichen Kiliçdaroğlus Aktion mit dem gewaltlosen Widerstand von Mahatma Gandhi gegen die britische Kolonialmacht.

In seiner Rede machte der CHP-Vorsitzende deutlich, dass er seinen Protestmarsch als Beginn einer neuen Phase in der Türkei sieht. Er forderte die Freilassung aller nach dem Putschversuch inhaftierten Politiker und Journalisten und warf Erdoğan vor, den nach dem Umsturzversuch verhängten Ausnahmezustand zu einem „zivilen Putsch“ gegen die Demokratie zu missbrauchen: „Heute ist die Türkei eine Diktatur“.

Zudem wolle die Regierung die tatsächlichen Ereignisse beim Putschversuch vom 15. Juli 2016 verschleiern. Manche Erdoğan-Kritiker sprechen von einem fingierten Putsch, der als Anlass für eine ohnehin geplante Hexenjagd auf Andersdenkende benutzt worden sei.

Verunsicherter Präsident

Bei aller Kritik an der Regierung distanzierte sich der Oppositionsanführer entschieden von dem Putschversuch. In einem Zehn-Punkte-Katalog verlangte er jedoch die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Rehabilitierung zu Unrecht verfolgter Staatsdiener und Akademiker sowie die Bestrafung der „wirklichen Putschisten“. Damit deutete Kiliçdaroğlu den Verdacht an, dass Mitglieder von Erdoğans Regierungspartei AKP verwickelt gewesen sein könnten.

Der Präsident und seine Anhänger sind ganz offenbar verunsichert. Einige regierungsnahe Medien ignorierten das Großereignis in Maltepe, andere beschimpften die Teilnehmer des Protestmarsches als „Verräter“ oder gar als „Terroristenhelfer“, wie Erdoğan selbst dies vor einigen Tagen getan hatte. Manche Anhänger des Staatschefs riefen den Präsidenten auf, seinerseits eine Großdemonstration zu organisieren, um dem Land zu zeigen, dass er wesentlich mehr Menschen mobilisieren könne als Kiliçdaroğlu.

Doch damit wäre das Problem für Erdoğan nicht gelöst. Die Angst vor immer neuen Verhaftungswellen und das Gefühl, dass die Justiz vollends zu einem Instrument der Regierung geworden ist, reicht bis in die Stammwählerschaft des Präsidenten hinein.

Der Journalist Fehmi Koru, ein langjähriger Erdoğan-Anhänger, der sich vom Präsidenten abgewandt hat, rät der AKP, die Forderung nach einer gerechten Gesellschaftsordnung ernstzunehmen. Die AKP müsse aufhören, in jeder Art der Opposition eine Bedrohung zu sehen, schrieb Koru auf seiner Internetseite: Das Ziel einer demokratischen Opposition, die Regierungspartei von der Macht zu verdrängen, sei legitim und kein staatsfeindlicher Akt, betonte der Journalist in Anspielung auf Erdoğans Hang, jeden Widerspruch zum Putschversuch zu erklären.

Probelauf für Superwahljahr

Bisher gibt sich der Staatspräsident allerdings unversöhnlich und lässt nicht erkennen, dass er aus der Machtdemonstration seiner Gegner Lehren für die Zukunft ziehen will. Doch spätestens seit Sonntag weiß Erdoğan, dass seine Politik von vielen türkischen Normalbürgern abgelehnt wird, nicht nur von einem Haufen radikaler Landesverräter.
Für den Präsidenten wie für Kiliçdaroğlu steht viel auf dem Spiel: In zwei Jahren steht in der Türkei ein Superwahljahr mit Kommunal-, Parlaments- und Präsidentenwahlen an. In den vergangenen Jahren kam Kiliçdaroğlus CHP bei Wahlen über ihre Stammanhängerschaft, die etwa 25 Prozent der türkischen Wählerschaft ausmacht, nicht hinaus. Nun könnte sich die CHP zu einer Heimat für Erdoğan-Gegner vieler politischer Überzeugungen entwickeln. Dazu müsste sich Kiliçdaroğlus Partei, die bisher eine linksnationalistische Politik verfolgte, jedoch politisch öffnen und sich beispielsweise in der Kurdenpolitik eine tolerantere Haltung aneignen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2017)

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