Seit dem Putschversuch entließ die Regierung 150.000 Beamte. 50.000 sitzen in Haft. Für viele Familien bedeutet das den Ruin.
Istanbul. Murat fährt in diesem Jahr nicht in Urlaub. Die Sonne brennt auf das Taxidach, und Murat kämpft mit entzündeten Nebenhöhlen von den Abgasen. Normalerweise würde er um diese Jahreszeit mit seiner Familie für eine Woche ans Meer fahren, doch das wäre jetzt geschmacklos – das kann er seinem Schwager nicht antun. Außerdem braucht der Taxifahrer jede Lira, um die Schwägerin und ihre drei kleinen Kinder zu unterstützen. Denn der Schwager sitzt seit elf Monaten hinter Gittern und bekommt kein Gehalt mehr.
Hunderttausende Menschen in der Türkei leben ein Jahr nach dem Putschversuch vom 15. Juli mit der Verzweiflung. Mehr als 150.0000 Staatsdiener wurden seitdem entlassen, über 50.000 Menschen sitzen in Haft. Die Regierung sagt, sie müsse zur Verhinderung eines neuen Putsches gegen Gefolgsleute des Predigers Fethullah Gülen vorgehen, der in Ankara als Drahtzieher des Umsturzversuches gilt. Der Verdacht auf Gülen-Anhängerschaft ist schon gleichbedeutend mit einem Schuldurteil – und dem Absturz der Betroffenen.
Wer als Beamter entlassen oder festgenommen wird, verliert automatisch alle Ansprüche auf Gehalt, Abfindung oder Pension. Damit schlittern mindestens zehn weitere Menschen in existenzielle Nöte. Im Fall seines Schwagers vermutet Murat (Name geändert), dass ihm sein Bankkonto zum Verhängnis wurde. Er führte es bei der Bank Asya, die der Gülen-Bewegung zugerechnet wurde und bis vor Kurzem noch als völlig seriös und staatstragend galt. Wer sein Konto bei der Bank nicht eilig auflöste, als Recep Tayyip Erdoğan sich vor dreieinhalb Jahren mit Gülen überwarf, der gilt der Staatsgewalt heute als unsicherer Kantonist und kommt erst einmal hinter Gitter.
Murats Schwager, der Ehemann der Schwester seiner Frau, war Polizeibeamter im südtürkischen Adana und ist Murats Erzählungen zufolge ein unpolitischer Mensch. Vor allem ist er vernarrt in seine drei Kinder, die 14, elf und vier Jahre alt sind. „Die Kleine weint immerzu und fragt, wann er nach Hause kommt“, erzählt Murat. Besuche sind aber fast unmöglich, weil der Schwager in ein Gefängnis in Izmir gesteckt wurde, tausend Kilometer von Adana entfernt.
Noch keine Anklage nach elf Monaten
Im August wurde der Schwager verhaftet. Eine Anklage liegt aber bis heute noch nicht vor. Darüber, was ihm vorgeworfen wird, von Beweisen ganz zu schweigen. Seine Gehaltszahlungen wurden aber sofort gestoppt. Seine Frau wagt sich nicht in ihr Dorf in der Schwarzmeerregion zurück, solange ihr Mann im Gefängnis ist – konservative Dörfer können gnadenlos sein.
Familien wie die von Murat gibt es viele in der Türkei. Unzählige Menschen würden eingesperrt, ohne dass etwas gegen sie vorliege – „monatelang, nur um sie zu quälen“, schrieb kürzlich Ayse Arman, die Gesellschaftskolumnistin der Zeitung „Hürriyet“, die mit ihrem Promi-Status fast unantastbar ist. Die Gesellschaft habe resigniert. „Was auf uns allen lastet in diesem Sommer, das ist die Verzweiflung.“ Murat kann sich dieser Verzweiflung nicht hingeben. Der Mittdreißiger fährt weiter durch die brüllend heißen Straßen. „Und wenn mein Schwager dann freikommt, fahren wir alle zusammen ans Meer.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2017)