Nahost: Hamas will die Macht abgeben

Martialische Machtdemonstration: Die Sicherheitskräfte der radikalen Hamas, die gefürchteten Qassim-Brigaden, marschieren mit Kindern durch Khan Yunis im Gazastreifen.
Martialische Machtdemonstration: Die Sicherheitskräfte der radikalen Hamas, die gefürchteten Qassim-Brigaden, marschieren mit Kindern durch Khan Yunis im Gazastreifen.(c) APA/AFP/SAID KHATIB
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Die radikale Palästinensergruppe ist bereit, die Verwaltung des Gazastreifens an Palästinenser-Präsident Abbas zu übergeben. Unklar ist, ob sie auch auf die Kontrolle ihrer Sicherheitsbrigade verzichtet.

Kairo/Gaza. Alle Grenzübergänge mit Israel und Ägypten sind seit Jahren blockiert. Strom fließt im palästinensischen Gazastreifen nur noch drei Stunden am Tag. Das Trinkwasser ist verschmutzt, salzig und vielfach ungenießbar. In den Krankenhäusern fehlt es am Nötigsten. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 42 Prozent. Und immer noch hausen Tausende Menschen, die im jüngsten Gaza-Krieg vor drei Jahren ausgebombt wurden, in Notunterkünften.

Die Lebensverhältnisse der rund zwei Millionen Einwohner in der Enklave am Mittelmeer sind zehn Jahre nach der gewaltsamen Machtübernahme durch die radikalislamische Hamas so unerträglich geworden, dass sich die fundamentalistische Palästinenserbewegung am Sonntag erstmals bereiterklärt hat, die Verwaltung des völlig ramponierten Küstenstreifens abzugeben. Man lade die Regierung von Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas im Westjordanland dazu ein, „in den Gazastreifen zu kommen und ihre Aufgaben sofort zu übernehmen“, hieß es nun in einer Mitteilung. Der Schritt sei das Ergebnis „großzügiger Bemühungen von Ägypten, eine palästinensische Versöhnung herbeizuführen.“

Pragmatischer Hamas-Anführer

Im Einzelnen stimmte die Hamas in den von Kairo vermittelten Gesprächen zu, ihre Gegenregierung, das sogenannte Verwaltungskomitee, aufzulösen und sich zusammen mit ihrem Rivalen Fatah an der Organisation allgemeiner Wahlen im Gazastreifen und im Westjordanland zu beteiligen. Die jüngsten Wahlen fanden im Jahr 2006 statt, sodass sowohl die radikale Hamas als auch die gemäßigtere Fatah nun schon seit Jahren ohne demokratisches Mandat ihrer Bevölkerung regieren. Ungeklärt ist noch, ob die Hamas die Kontrolle über ihre Sicherheitskräfte, die Qassim-Brigaden, abgibt.

Auch wenn sämtliche bisherigen Versöhnungsversuche scheiterten, diesmal sind die Aussichten besser, dass die Palästinenser ihr Zerwürfnis Schritt für Schritt beilegen können. Die Wende kam im Mai mit der Wahl von Ismail Hanija zum Hamas-Chef, der den im Exil in Qatar lebenden Khaled Meschal ablöste. Anders als Meschal wohnt Hanija im Gazastreifen, kennt den unerträglichen Alltag und gilt als Pragmatiker, der vor allem mit Ägypten eine bessere Beziehung anstrebt. Seit seiner Machtübernahme versucht Hanija, den Einfluss der Exilführung zurückzudrängen und die Nöte der heimischen Bevölkerung stärker in Anschlag zu bringen.

Unter der neuen Führung deutete die Hamas-Bewegung zudem in einem Positionspapier erstmals die Bereitschaft an, zeitweise auch einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 zu akzeptieren. Vom bewaffneten Widerstand gegen Israel und vom prinzipiellen Anspruch auf das gesamte historische Palästina rückte die radikalislamische Organisation jedoch nicht ab. Vorige Woche war Hanija mit großer Delegation in Kairo, die dort mit den Gesandten von Palästinenser-Präsident Abbas verhandelte.

Allerdings ist in der Gaza-Enklave Hanijas gemäßigtere Linie umstritten, Hardliner sträuben sich gegen die neuen Kompromisse. So begrüßte Mahmoud al-Aloul, Mitglied des Fatah-Zentralkomitees in Ramallah, denn auch im palästinensischen Radiosender Stimme Palästinas die Einigung und sprach von „guten Nachrichten“. Er bleibe jedoch skeptisch, ob das Abkommen wirklich zu einer umfassenden Versöhnung führen werde, sagte er. „Wir müssen erst abwarten und sehen, was tatsächlich passiert, bevor wir zu den nächsten Schritten übergehen“, sagte er. Nach der Fatah ist die Hamas die zweitgrößte Palästinensergruppierung. Im Jahr 1987 während der Ersten Intifada gegründet besteht die Hamas aus einem politischen und einem militärischen Zweig sowie einem karitativen Hilfswerk. Von den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und von Israel wird sie als Terrororganisation eingestuft.

„Ein neues Kapitel für Palästinenser“

Drei Kriege haben Israel und die Hamas im vergangenen Jahrzehnt gegeneinander geführt, die massive Zerstörungen in dem Küstengebiet hinterlassen haben. UN-Generalsekretär António Guterres sprach Ende August bei einem Besuch vor Ort von „einer der dramatischsten humanitären Krisen“, die er je gesehen habe.

Und so begrüßte der UN-Nahost-Gesandte Nickolay Mladenov am Sonntag das Einlenken der Hamas und dankte Ägypten für seine konstruktive Rolle. „Alle Beteiligten müssen die Gelegenheit ergreifen, ein neues Kapitel für das palästinensische Volk aufzuschlagen“, schrieb der Diplomat auf Twitter. Und er hoffe, „die palästinensischen Parteien werden das Momentum von Kairo nutzen, um die humanitäre Lage zu verbessern, angefangen mit der Stromkrise“.

AUF EINEN BLICK

Die radikalislamische Hamas dominiert seit 2007 den Gazastreifen, nachdem sie in einem Bürgerkrieg die gemäßigte Palästinenserorganisation Fatah besiegt hat. Die Fatah regiert seitdem nur mehr im Westjordanland, bisher sind sämtliche Versuche, die beiden Territorien durch eine Einheitsregierung wiederzuvereinen, gescheitert. Anders als die Fatah will die Hamas Israel zerstören und hat zahlreiche Terroranschläge auf Israelis verübt. EU und USA stufen die Hamas als Terrorgruppe ein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2017)

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