"Politisch unerwünscht": Warum Österreich 2015 Hunderttausende Flüchtlinge nicht registrierte

Flüchtlingsankunft am Wiener Westbahnhof.
Flüchtlingsankunft am Wiener Westbahnhof. (c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
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Anfang September 2015: Während sich Österreich an der Willkommenskultur berauscht, hat die Regierung Sorge, dass das Land in den Menschenmassen untergeht. Auf eine Registrierung der Flüchtlinge verzichtet sie deshalb ganz bewusst. Eine katastrophale Entscheidung, finden Spitzenbeamte. Auszug aus dem neuen Buch „Flucht“.

Auf dem Westbahnhof herrscht am 5. September 2015 Ausnahmezustand, es ist ein Großevent der Gastfreundschaft, eine Willkommensparty, bei der alle längst den Überblick verloren haben. Menschenmassen marschieren zur zentralen Hilfsstation auf Bahnsteig 1 und dann weiter zu den Zügen, die sie nach Deutschland bringen. An der Felberstraße hält ein Bus nach dem anderen. Zwischenzeitlich befinden sich fast 3500 Menschen gleichzeitig auf dem Bahnhofsgelände. Bis Mitternacht werden 8500 Flüchtlinge hier ankommen.

Begrüßt werden sie mit Applaus und „Refugees welcome“-Transparenten. Österreicher skandieren: „Say it loud, say it clear, refugees are welcome here!“ Flüchtlinge klatschen mit Helfern ab. Andere sind so erschöpft, dass sie kein Wort herausbringen. Kinder weinen, verstecken sich unter Decken, werden schlafend durch den Bahnhof getragen. Die Strapazen der langen Reise sind allen anzumerken, auch jene vom letzten Zwischenstopp. Die meisten ungarischen Polizisten sollen nicht gerade zimperlich gewesen sein.

Von den Österreichern sind alle positiv überrascht. Auch die Österreicher selbst. Ältere Damen sind mit Obstkörben gekommen. Jungväter halten Kinder an den Händen, die Flüchtlingskindern Lollis schenken. Menschen kaufen Supermärkte leer, schieben voll beladene Einkaufswagen vor sich her und verteilen Wasserflaschen, Brot, Bananen, Windeln, Zahnbürsten. Gegen Mittag sehen sich die Caritas und der Fonds Soziales Wien gezwungen, einen Spendenstopp auszurufen: Die Lager seien voll. Eine Website und eine App werden eingerichtet, um die Hilfsbereitschaft steuern zu können.

Im Lauf des Tages marschieren etliche Politiker auf dem Westbahnhof auf, aus Empathie natürlich, aber auch weil sie beim Empathischsein gesehen und gefilmt werden wollen. Nationalratspräsidentin Doris Bures schaut vorbei, Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser, Staatssekretär Harald Mahrer, Grünen-Chefin Eva Glawischnig. Das Büro des Außenministers überlegt, ob es Sebastian Kurz nicht gut anstehen würde, wenn er sich ebenfalls auf dem Westbahnhof blicken ließe. Immerhin ist er ja auch Integrationsminister. Am Ende setzt sich aber ein Mitarbeiter durch, der findet, dass ein solcher Auftritt nicht zur restriktiven Linie passe, die man in der Asylpolitik generell vertrete.

Kontrollen unerwünscht. Werner Faymann ist verhindert, weil die SPÖ einen Themenrat im Museumsquartier einberufen hat, also einen kleinen Parteitag, der sich einem einzigen Thema widmet. Heute ist ein SPÖ-Klassiker an der Reihe: Bildungspolitik. Eine Themenverfehlung, ungewollt, aber doch. Der Ehrengast, Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz, versucht, eine Brücke zu schlagen, indem er die österreichischen Genossen ermutigt, jenen Flüchtlingen, die im Land bleiben, eine schulische Ausbildung angedeihen zu lassen. Und auch Faymann hat das Bedürfnis, die Entscheidungen der Nacht, zu denen er ja nicht unwesentlich beigetragen hat, zu rechtfertigen: „Balken auf für die Menschlichkeit“, sagt er. Seine Partei hat dem ausnahmsweise nichts hinzuzufügen. Dafür erscheint am frühen Nachmittag die Innenministerin auf dem Westbahnhof und bekommt dort zu hören, was österreichische Politiker eigentlich nie zu hören bekommen: „Es leben die österreichischen Politiker!“ Johanna Mikl-Leitner schüttelt Hände, lässt sich Flüchtlingsschicksale schildern und sagt dann einen Satz, an den sie in einigen Wochen nicht gern erinnert werden wird: „Mein Herz bebt bei diesen Bildern.“

Auch im Hintergrund bebt es, aber aus einem anderen Grund. Die Regierung hat Sorge, dass das Land in den Menschenmassen untergeht. Von den Asylverfahren, die möglicherweise auf Österreich zukommen, ganz zu schweigen. An der Oberfläche dominiert die Gastfreundschaft. Aber lang sollen die Gäste nicht bleiben. Nur gibt das keiner zu. Sogar NGOs wundern sich, warum am Grenzübergang in Nickelsdorf nicht kontrolliert wird. Kritiker sprechen bereits von einem Administrationsversagen. Will denn der Staat nicht wissen, wen er ins Land lässt? Aus dem Innenministerium heißt es noch im Nachhinein: Registrierungen seien angesichts der Massen nicht möglich gewesen. Pro Person brauche die Polizei fünf Minuten: um den Ausweis zu kontrollieren und die biometrischen Daten aufzunehmen. „Rechnen Sie das mal 10.000.“ Eine Erstbefragung zu einem Asylantrag nehme noch mehr Zeit in Anspruch. Außerdem verweist das Ministerium auf das Schengen-System, in dem Grenzkontrollen allenfalls vorübergehend vorgesehen sind: „Entweder es gibt Verträge oder es gibt keine.“

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Ein hochrangiger Sicherheitsbeamter bezeichnet es als „katastrophal“, dass die Behörden über Monate hinweg Hunderttausende Einreisende nicht registriert haben. „Bis heute wissen wir nicht vollständig, wer nach Europa gekommen ist.“ Das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR kann die organisatorischen Anfangsschwierigkeiten angesichts des Massenandrangs in Nickelsdorf nachvollziehen. Doch eines ist auch für die Experten klar: Um eine gewisse Form der Ordnung ins System zu bringen, müssen zu Beginn jeder Krise die Personaldaten der Schutzsuchenden aufgenommen werden.

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Der Chef einer Hilfsorganisation sagt unumwunden, Österreich hätte das Know-how, mit größeren Menschenmengen umzugehen und sie zu erfassen. Den Beweis erbringe es jeden Tag auf dem Flughafen. Bei den Flüchtlingen sei das keine Frage des Nichtkönnens, sondern des Nichtwollens gewesen. Auch ein Spitzenbeamter des Innenministeriums bestätigt: Es sei politisch erwünscht gewesen, dass die Migrantenkarawane ungeprüft weiterzieht. Sobald es nämlich einen Nachweis gibt, dass ein Flüchtling österreichischen Boden betreten hat, kann er nach der Dublin-Verordnung wieder zurückgewiesen werden. Aus Deutschland zum Beispiel. Oder aus Schweden. Und deshalb agiert Österreich am Beginn der Flüchtlingskrise nach dem Motto: Reisende soll man nicht aufhalten. Der Staat hilft ihnen sogar auf der Durchreise.

Der Krisenstab der Republik, die „Siebenerlage“, kommt am 5. September zu zwei Sitzungen zusammen, das erste Mal um zehn Uhr und dann wieder um 18 Uhr. Dem Gremium gehören Vertreter des Kanzleramts, der Ministerien für Inneres, Äußeres, Verteidigung, Gesundheit und Verkehr, der ÖBB sowie des Roten Kreuzes, des Arbeitersamariterbundes und der Caritas an. Moderiert wird die Runde von Konrad Kogler, dem Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit. In den nächsten Wochen trifft sich die Siebenerlage bis zu dreimal täglich, immer im Einsatz- und Koordinationscenter (EKC) des Innenministeriums, das sich am Wiener Minoritenplatz befindet. Im EKC wird die sicherheitspolitische Lage der vergangenen 24 Stunden analysiert. Informationen laufen hier zusammen, werden von Experten bewertet und an die verantwortlichen Stellen weitergegeben.

So auch an diesem Samstag. Vom Lagezentrum, vorbei an Schreibtischen und Bildschirmen, führt der Weg in das Besprechungszimmer, einen schmucklosen kleinen Büroraum. Um einen glatt polierten braunen Holztisch, unter einer niedrigen Decke und Leuchtstoffröhren hat sich der Krisenstab versammelt. Die ein wenig konspirativ klingende Bezeichnung „Siebenerlage“ hat sich über die Jahre entwickelt. Nach dem 11. September 2001 trafen sich hohe Beamte des Außen- und des Verteidigungsministeriums regelmäßig mit dem damaligen Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Erik Buxbaum, zum vertraulichen Gespräch. So entstand die Dreierlage. Mit den Jahren stießen immer neue Ministerien dazu und erweiterten die Runde zur Fünfer- und schließlich zur Siebenerlage.

Entscheidungsvakuum. Im September 2015 steht das Gremium vor einer riesigen logistischen Herausforderung: Es muss die Versorgung und den Weitertransport der Flüchtlinge nach Deutschland organisieren. Die Willkommenskultur, an der sich das Land gerade berauscht, bedeutet für diese Runde vor allem eines: Stress. Die Sitzungen verlaufen dynamisch, gereizt – und sie dauern lang. Manchmal ist das Protokoll, das hinterher an alle Teilnehmer verschickt wird, noch gar nicht fertiggestellt, da beginnt schon die nächste. Stündlich werden die Probleme größer. Die ÖBB stoßen an die Grenzen ihrer Transportmöglichkeiten. Die Busse können das nicht kompensieren. Immer wieder kommt es zu Überdrucksituationen auf den Bahnhöfen in Wien, Salzburg und Graz. Oder zu heiklen Situationen an der Grenze. Eines Nachts machen sich Hunderte Flüchtlinge in Nickelsdorf zu Fuß auf den Weg und jagen den Dorfbewohnern einen großen Schrecken ein. Außerdem sind die Notunterkünfte, die nun landauf, landab für Flüchtlinge eingerichtet werden, bald voll. Die Flüchtlingszahlen sprengen alle Kapazitäten. Und was, wenn Hunderte Menschen beschließen, über Schienen oder Autobahnen weiterzumarschieren, wie in Ungarn?

Zu allem Überfluss leidet die Siebenerlage auch noch an einer Krankheit, die zwar heilbar ist, aber nicht über Nacht: einem Entscheidungsvakuum. Konrad Kogler ist als Sektionschef im Innenministerium für die öffentliche Sicherheit zuständig, aber gesetzlich nicht ermächtigt, Beamten anderer Ressorts oder NGO-Mitarbeitern Befehle zu erteilen. Als Moderator der Siebenerlage, das werden ihm hinterher alle attestieren, macht er mit seiner ruhigen und sachlichen Art einen guten Job. Aber letztlich ist Kogler auf den guten Willen der anderen angewiesen. Und manchmal kann er einfach nichts ausrichten. Dieses Grundproblem zieht sich durch das gesamte Gremium. Es sind überwiegend Beamte anwesend, die aus ihren Bereichen berichten, aber nichts entscheiden können oder wollen. Viele fürchten sich vor Anzeigen wegen Amtsmissbrauchs oder Untreue, vor dem Rechnungshof, einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss oder gar der Korruptionsstaatsanwaltschaft.

Am Beispiel der Busbeschaffung wird das besonders deutlich. Vertreter des Innenministeriums argumentieren, dass sie zuerst eine europaweite Ausschreibung machen müssen, ehe sie ein privates Busunternehmen engagieren können. Dafür ist aber nicht genug Zeit. Die Flüchtlinge wollen weitertransportiert werden. Also bestellen das Rote Kreuz und der Fonds Soziales Wien die Busse und gehen damit ein finanzielles Risiko ein. Erst einige Tage später übernimmt der Staat, nachdem ein Beamter draufgekommen ist, dass es für diesen Fall bereits einen Rahmenvertrag der Bundesbeschaffungsagentur gibt.

Alle betreten in diesen Tagen Neuland. Eine solche Rechtssituation hat es in Österreich noch nie gegeben. Der Staat weiß, was zu tun ist, wenn Flüchtlinge einen Asylantrag stellen. Aber er weiß nicht, was er mit Menschen tun soll, die nicht als Touristen gekommen sind, die keine Aufenthaltsbewilligung haben und nur eines von ihm wollen: dass er ihnen auf dem Weg nach Deutschland hilft. Kurzum: Für eine staatlich organisierte Schlepperei gibt es keine gesetzliche Grundlage.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2017)

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