Ägypten: Auf dem Nordsinai regiert der Terror

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Ein radikales Kommando richtete ein Blutbad mit mindestens 235 Toten in einer Moschee im Norden der Halbinsel Sinai an. Seit vier Jahren führt Ägyptens Militär dort vergeblich Krieg gegen einen IS-Ableger.

Tunis. Horror und Entsetzen erschüttern Ägypten. Bei dem blutigsten Terrormassaker an Zivilisten in der modernen Geschichte des Landes, wurden am Freitag in der Al-Rawdha-Moschee im Nordsinai-Städtchen Bir al-Abed mindestens 235 Betende getötet und über 140 verletzt.

Bilder aus dem Inneren des Gotteshauses, das sich etwa 40 Kilometer westlich der Provinzhauptstadt El-Arish befindet, zeigten dutzende Leichen auf dem Boden, die mit Tüchern abgedeckt waren. Nach Angaben von Überlebenden stürmte ein Terrorkommando, das mit vier Geländewagen vorgefahren waren, während des Freitagsgebetes das Innere, zündete mehrere Bomben und nahm die in Panik Deckung suchenden Gläubigen mit Sturmgewehren unter Feuer. Auch Krankenwagen, die Verletzte bergen wollten, wurden beschossen. Die Regierung rief eine dreitägige Staatstrauer aus. Präsident Abdel Fattah al-Sisi bestellte den Nationalen Sicherheitsrat ein.

Ägypten führt seit vier Jahren auf dem Nordsinai einen immer brutaleren Krieg gegen den örtliche Ableger des „Islamischen Staates“, dem schon hunderte Soldaten und Polizisten zum Opfer gefallen sind. Medien und internationalen Beobachtern ist die Fahrt dorthin verboten, sodass das Ausmaß der Kämpfe im Dunkeln bleibt. Präsident Sisi beschwört regelmäßig nach Attentaten, „den Terrorismus auf dem Sinai komplett auszurotten“. Erst kürzlich erklärte er bei einer Rede vor Offizieren, auf der Halbinsel seien inzwischen 20.000 und 25.000 Soldaten im Einsatz, mehr als bei dem Sechs-Tage-Krieg 1967 gegen Israel.

Bisher griffen die Extremisten in der Regel Einheiten von Armee oder Polizei sowie Personen an, die sie verdächtigen, mit den Sicherheitskräften zu kooperieren. Anfang Oktober stürmten über 100 Jihadisten einen Außenposten nahe der Stadt Sheikh Zuwaid, sechs Soldaten und 24 Militante starben.

Vorletzte Woche wurden neun Lastwagenfahrer auf offener Straße exekutiert, die Kohle für eine Zementfabrik in El-Arish geladen hatten, die der Armee gehört. Im Februar verübten IS-Gotteskrieger eine spektakuläre Mordserie an Kopten. Sämtliche der rund 500 vor Ort ansässigen Gläubigen flohen und ließen ihre Häuser zurück. Sie leben seitdem in Notunterkünften in der Suezkanal-Stadt Ismailia oder bei Verwandten in Oberägypten.

Kordon um Baderessorts

Dagegen blieb der Süden des Sinai, wo die Baderessorts an der Küste des Roten Meeres und des Golfes von Aqaba liegen, bisher von Attentaten weitgehend verschont. Im Oktober 2015 jedoch gelang es einem IS-Komplizen, auf dem Rollfeld des Flughafens von Sharm el-Sheikh eine Bombe an Bord einer russischen Chartermaschine zu schmuggeln. Der Ferienflieger explodierte etwa eine halbe Stunde nach dem Start, 229 Menschen starben. Seitdem sind sämtliche Luftverbindungen zwischen Russland und Ägypten unterbrochen, weil Moskau auf eine grundlegende Verbesserung der ägyptischen Sicherheitskontrollen pocht.

Attacke auf Zentrum der Sufis

Die am Freitag attackierte Al-Rawdha-Moschee auf dem Nordsinai ist nach Angaben örtlicher Stammesführer ein Zentrum der Sufis, zu deren Glaubenspraxis auch ekstatische Tänze sowie die Verehrung frommer Vorbilder gehören. Anhänger des „Islamischen Staates“ dagegen, die einen puritanisch-salafistischen Islam befolgen, betrachten diese der Mystik zuneigenden Mitmuslime als Häretiker.

Vor einem Jahr enthaupteten die Fanatiker auf dem Nordsinai vor laufender Kamera einen älteren Sufi-Kleriker, den sie beschuldigen, er praktiziere Magie und Hexenkult. Andere Sufi-Anhänger kamen unversehrt frei, nachdem sie – umringt von bewaffneten Jihadisten - ihrem angeblichen Unglauben abgeschworen hatten.

Rekrutierung im Gefängnis

Im vergangenen Mai veröffentlichte die IS-Publikation Al-Nabaa ein Interview mit einen Unbekannten, der sich als der neue Ägypten-Chef der sogenannten „Soldaten des Kalifats“ ausgab. Nach seinen Aussagen existieren inzwischen zwei voneinander unabhängige IS-Filialen auf ägyptischen Territorium, eine operiert als „Provinz Sinai“ im Norden der Halbinsel, die andere vom Nordsinai aus in den übrigen Teilen des Landes, vor allem in Kairo und im Nildelta.
Erst vor vier Wochen lockten Extremisten einen Konvoi von Anti-Terror-Spezialisten auf der Straße zwischen Kairo und der Oase Bahariyya in einen Hinterhalt und töteten 16 Beamte. Nach Aussagen von entlassenen Häftlingen wird der „Islamische Staat“ auch in ägyptischen Gefängnissen zunehmend virulent und versucht, unter den 60.000 politischen Gefangenen des Sisi-Regimes neue Anhänger zu rekrutieren.

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