Brexit-Aufwärmrunde ist zu Ende

Der inhaltliche Abstand zwischen Premierministerin Theresa May und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker ist nach wie vor groß. Die Gespräche in Brüssel scheiterten beinahe an der Causa Nordirland.
Der inhaltliche Abstand zwischen Premierministerin Theresa May und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker ist nach wie vor groß. Die Gespräche in Brüssel scheiterten beinahe an der Causa Nordirland.APA/AFP/EMMANUEL DUNAND
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Der mit Ach und Krach zustande gekommene Kompromiss über die Bedingungen des Austritts war der einfache Teil der Verhandlungen. Nun geht es um die Zukunft.

Brüssel. Als der Deal in den frühen Morgenstunden unter Dach und Fach war, verschickte Martin Selmayr, der Kabinettschef des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, das Bild eines weiß rauchenden Schornsteins über die sozialen Netzwerke. Im Bürokomplex Berlaymont, dem Hauptquartier der Brüsseler Behörde, herrschte Erleichterung. Nach monatelangen Verhandlungen haben sich die EU und Großbritannien auf die Modalitäten des britischen EU-Austritts geeinigt. Die Gespräche über die künftige Ausgestaltung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen können nun beginnen.

Der Austrittsprozess hatte am 29. März begonnen, als Premierministerin Theresa May ihren europäischen Kollegen das offizielle EU-Austrittsgesuch Großbritanniens zukommen ließ – und den zweijährigen Austrittsprozess gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags aktivierte. Das genaue Datum des Brexit steht somit fest: 29. März 2019. Bis dahin müssen sich London und Brüssel handelseins sein, um einen chaotischen Austritt zu vermeiden.

3:0 für die Europäer

Mit dem gestrigen Deal ist die erste Verhandlungsphase abgeschlossen – sofern die Staats- und Regierungschefs der EU-27 bei ihrem Gipfeltreffen kommende Woche dem Kompromiss zustimmen. Davon ist allerdings auszugehen, denn inhaltlich konnten sich die Europäer auf der ganzen Linie durchsetzen. Die Briten haben sich erstens bereit erklärt, ihren Teil der offenen EU-Rechnungen zu begleichen – es geht um eine Größenordnung von 40 bis 60 Mrd. Euro. Sie garantieren zweitens, dass die Rechtsansprüche der in Großbritannien lebenden EU-Bürger weitgehend unangetastet bleiben (allerdings ohne direkte Zuständigkeit des EuGH, wie von Brüssel ursprünglich gefordert). Und sie sind drittens dazu bereit, die Vorschriften im nordirischen Landesteil an das in der Republik Irland geltende EU-Recht anzugleichen, sollte es bis zum Austrittsdatum keine Einigung über den künftigen Modus Vivendi geben.

Am letzten Punkt sind die Verhandlungen beinahe gescheitert, denn die nordirische Unionspartei DUP, die die Regierung in London stützt, verweigerte May die Gefolgschaft. Das Kernanliegen der Unionisten: Die Bande zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs dürfen nicht geschwächt werden. Der gestrige Kompromiss trägt dieser Forderung Rechnung: Die regulatorische Anpassung an die EU-Regeln soll im Fall des Falles nicht nur für Nordirland, sondern für ganz Großbritannien gelten.

Hintergrund: Die Basis für den Frieden zwischen nordirischen Unionisten und Republikanern ist das Karfreitagsabkommen von 1998, das die Zusammenarbeit zwischen Irland und Nordirland regelt. Die ökonomische Basis dieser Zusammenarbeit ist allerdings der EU-Binnenmarkt – den die Briten verlassen wollen. Um eine „harte“ innerirische Grenze zu vermeiden, müssen die Vorschriften auf beiden Seiten der Grenze aneinander angepasst bleiben. Gemäß der irischen Regierung geht es dabei um gut 140 Bereiche: von der Landwirtschaft über die Wasserverwaltung bis hin zu den Stromleitungen. Der Harmonisierungsbedarf ist also selbst im Fall eines „harten“ Brexit beachtlich. Das ist auch der Grund dafür, dass die Begeisterung der britischen Europafeinde über den gestrigen Deal enden wollend war (siehe unten). Denn er widerspricht ihren Forderungen nach einem klaren Bruch mit Europa.

Norwegen oder Kanada?

Dabei waren die Gespräche über die Bedingungen des Austritts nur der einfache Teil der Brexit-Verhandlungen. Jetzt muss May Farbe bekennen: Wie nahe wollen die Briten nach dem Brexit an Europa bleiben? Wie Schatzkanzler Philip Hammond am Mittwoch zugeben musste, hat es im Kabinett der Premierministerin bis dato noch kein einziges Gespräch über die Form der künftigen Zusammenarbeit mit der EU gegeben. Der Grund: Die regierenden Tories sind in zwei Lager geteilt. Auf der einen Seite die Brexit-Hardliner rund um Außenminister Boris Johnson, auf der anderen Seite die Europafreunde rund um Schatzkanzler Hammond.

Bevor mit Brüssel verhandelt werden kann, müssen die Tories auf einen grünen Zweig kommen. Die Zeit wird knapp, denn damit das Austrittsabkommen ratifiziert werden kann, muss es bis Herbst 2018 ausverhandelt sein. Aus der EU-Perspektive stehen für London zwei Möglichkeiten zur Wahl: das Norwegen-Modell (also die weitere Teilnahme am EU-Binnenmarkt ohne Mitspracherecht) oder das Kanada-Modell – also ein Handelsabkommen nach dem Vorbild des EU-Kanada-Pakts Ceta. Die Briten lehnen bis dato beide Varianten ab und wünschen sich ein maßgeschneidertes Abkommen mit mehr Rechten als Ceta und weniger Pflichten als Norwegen.

EU-Chefverhandler Michel Barnier stellte gestern klar, dass Ceta die einzige Option sei, sollte London tatsächlich Binnenmarkt und Zollunion der EU verlassen wollen. „Die britische Regierung selbst hat rote Linien gezogen, die bestimmte Türen verschließen. Deshalb arbeiten wir auf dieses Modell hin.“

Wie unter diesen Voraussetzungen Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland vermieden werden sollen, ist nur eine der vielen offenen Fragen, die in den kommenden Monaten beantwortet werden müssen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.12.2017)

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