Premierministerin Theresa May verspricht: „Ich lasse mich nicht von meinem Kurs abbringen.“ Aber die Stimmung im Land kippt, eine knappe Mehrheit ist für den EU-Verbleib.
London. Während die britische Premierministerin, Theresa May, am Montag ihr Kabinett zu Beratungen über die künftige Brexit-Strategie zusammentrommelte, bekommen die Briten erste Zweifel am EU-Austritt. Nach einer Umfrage für die Tageszeitung „Independent on Sunday“ sprechen sich aktuell 51 Prozent für den Verbleib in der Union aus (41 Prozent für Austritt, Rest unentschlossen). Studienleiter Michael Turner vom Meinungsforschungsinstitut BMG Research: „Wir sehen eine graduelle Verschiebung der Mehrheit in Richtung EU-Verbleib.“
Diese Umkehrung ist vor allem den bisher Unentschlossenen geschuldet: „Jene Wähler, die 2016 nicht an der Volksabstimmung teilnahmen, sind heute in überwältigender Mehrheit für den Verbleib“, meinte Turner. In der Volksabstimmung im Juni 2016 hatten 51,8 Prozent für den EU-Austritt gestimmt.
Gewandelt hat sich auch die Meinung über eine zweite Volksabstimmung: Vor einem Jahr hatten die Gegner eines neuen Referendums 19 Prozentpunkte Vorsprung. Heute liegen die Befürworter mit 16 Punkten voran. Der ehemalige konservative Staatssekretär David Willetts zur „Presse“: „Ein zweites Referendum ist unwahrscheinlich, aber nicht länger ausgeschlossen.“
In der öffentlichen Debatte bedeutet der Meinungsumschwung einen gravierenden Einschnitt, denn bisher konnten die Brexit-Anhänger unwidersprochen für sich in Anspruch nehmen, den „Willen des Volkes“ umzusetzen. Diesen Kurs will auch Premierministerin Theresa May fortsetzen: „Ich lasse mich nicht von meinem Kurs abbringen. Es ist meine Pflicht, die demokratische Entscheidung des Volkes umzusetzen“, betonte sie vor den zweitägigen Regierungsberatungen. Der Abschluss der ersten Phase der Brexit-Verhandlungen eröffne die Chance, nun eine „neue, tiefe und besondere Partnerschaft mit der EU“ zu errichten. May: „Unser Ehrgeiz und Einfallsreichtum kennen keine Grenzen.“
Querschüsse von Johnson
Der Aufruf der Premierministerin richtete sich ebenso an das Volk wie an ihre tief gespaltene Partei. Außenminister Boris Johnson schien zuletzt von der mit Brüssel vereinbarten „regulatorischen Anpassung“ schon wieder abzurücken, indem er erklärte: „Wenn wir nicht unsere eigenen Gesetze machen können, werden wir vom Mitgliedstaat zum Vasallenstaat.“ Zugleich versprach hingegen Schatzkanzler Philip Hammond der Wirtschaft: „Was wir am Ende wollen, ist eine Kopie des Status quo.“
May versuchte gestern vor dem Unterhaus einmal mehr, es allen Seiten recht zu machen: „Wir wollen den gegenseitigen Marktzugang wie bisher fortsetzen“. Dies soll vorerst für eine Übergangsperiode von zwei Jahren gelten. In dieser Zeit sollen Verhandlungen über neue bilaterale Handelsabkommen geführt werden. EU-Chefverhandler Michel Barnier erteilte britischen Hoffnungen allerdings eine Abfuhr: „Die Briten werden verstehen müssen, dass es kein Rosinenklauben geben wird“, sagte er dem Magazin „Prospect“. Die EU werde keine Sonderregelungen dulden, vielmehr gelte: „Die Briten werden mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung leben müssen.“
Die Spaltung in der Regierung zieht sich auch durch die konservative Parlamentsfraktion. Nach der Abstimmungsniederlage in der Vorwoche droht May schon morgen, Mittwoch, eine neue Schlappe beim Votum über eine Vorlage, die den 29. März 2019 per Gesetz zum EU-Austrittstag erklären soll.
Die Fraktionsführung reagiert auf Widerspruch zunehmend allergisch. Konservative, die in der Vorwoche gegen die Regierung gestimmt hatten, wurden nicht nur von den Anti-EU-Medien öffentlich gebrandmarkt. Sie wurden auch zum Parteiaustritt aufgefordert und eingeschüchtert. Charles Powell, einst außenpolitischer Berater von Premierministerin Margaret Thatcher und heute Baron im Oberhaus, meint: „Der Zwiespalt über Europa in der Partei ist so tief, dass die Spaltung der Konservativen praktisch unausweichlich sein wird.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2017)