Großbritannien: EU hofft auf den Exit vom Brexit

Ratspräsident Donald Tusk richtet einen Appell an Premierministerin Theresa May: „Der Brexit mit all seinen negativen Konsequenzen wird kommen, sofern unsere britischen Freunde nicht ihre Meinung ändern.“
Ratspräsident Donald Tusk richtet einen Appell an Premierministerin Theresa May: „Der Brexit mit all seinen negativen Konsequenzen wird kommen, sofern unsere britischen Freunde nicht ihre Meinung ändern.“ (c) APA/AFP/EMMANUEL DUNAND
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Kommissionspräsident Juncker und Ratspräsident Tusk wollen die Briten dazu bewegen, ihr EU-Austrittsgesuch zu überdenken, bevor die schwierige Phase der Brexit-Verhandlungen beginnt.

Straßburg/London. Muss die Scheidung vollzogen werden? Seit einigen Tagen macht man sich in Brüssel Gedanken darüber, ob der bei einem Referendum im Juni 2016 beschlossene Austritt Großbritanniens aus der EU wirklich definitiv zu sein hat. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk brachten gestern die Möglichkeit eines Rücktritts vom Brexit ins Spiel. „Unsere Tür bleibt offen. Ich hoffe, dass diese Botschaft in London vernommen wird“, sagte Juncker, während Tusk zuvor hatte wissen lassen: „Der Brexit mit all seinen negativen Konsequenzen wird kommen, sofern unsere britischen Freunde nicht ihre Meinung ändern.“

Der Zeitpunkt der Intervention deutet darauf hin, dass es hinter den Kulissen der Brexit-Verhandlungen Schwierigkeiten zu geben scheint. Für Theresa May schlägt die Stunde der Wahrheit. Bis dato konnte sich die Premierministerin auf die Modalitäten der Scheidung konzentrieren und Fragen nach der Zukunft beiseitewischen bzw. mit Phrasen à la „Brexit heißt Brexit“ beantworten. Diesen Luxus hat May nicht mehr: Bis zum EU-Gipfel im Februar soll sie konkretisieren, wie sich Großbritannien das Leben außerhalb der EU vorstellt – und auf diesen Offenbarungseid ist man in London nicht vorbereitet. Denn beim Referendum wurde den Briten suggeriert, dass sie nach dem Austritt alle Vorteile des Binnenmarkts genießen könnten, ohne „Nachteile“ wie EU-Ausländer auf dem britischen Arbeitsmarkt in Kauf nehmen zu müssen. Nun muss May den Wählern reinen Wein einschenken: Sie müssen wählen zwischen dem Modell Kanada (einem Freihandelsabkommen, das für Waren gilt, nicht aber für Dienstleistungen) und dem Modell Norwegen (der Teilnahme am Binnenmarkt ohne Mitsprache bei dessen Weitergestaltung). Die Kanada-Variante kommt für die Briten aus wirtschaftlichen, die Norwegen-Variante aus politischen Gründen nicht infrage.

In der irischen Zwickmühle

Und es kommt noch schlimmer: De facto haben die Briten nur die Wahl zwischen Norwegen und einem „harten“ Brexit ohne gegenseitiges Einvernehmen. Denn um den Friedensprozess in Nordirland nicht zu gefährden, haben sich die Briten im Dezember dazu verpflichtet, die aus dem Karfreitagsabkommen von 1998 resultierende wirtschaftliche Verflechtung zwischen Nordirland und der Republik Irland aufrechtzuerhalten. Und das geht nur, wenn die innerirische Grenze offen bleibt und die EU-Außengrenze stattdessen durch das Irische Meer verläuft. Das würde allerdings bedeuten, dass Nordirland Teil des EU-Binnenmarkts bliebe und sich vom britischen Markt löste – was wiederum für Mays nordirische Koalitionspartner nicht infrage kommt. Das Dilemma lässt sich nur auflösen, indem Großbritannien als Ganzes an den Binnenmarkt gekoppelt bleibt.

Dass den Briten zum Zeitpunkt des Referendums bewusst war, wie eingeschränkt ihre Optionen sein würden, darf angezweifelt werden – und je besser die Briten über den Brexit informiert sind, desto eher sind sie für den Verbleib ihres Landes in der EU (siehe Grafik). Der Erste, der die Zeichen der Zeit erkannt hat, ist Nigel Farage. Der ehemalige Chef der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (Ukip) brachte vergangene Woche die Möglichkeit eines zweiten Brexit-Referendums ins Spiel. May selbst schließt ein neuerliches Referendum (vorerst) aus. „Die Briten haben für den Austritt gestimmt, und das werden wir tun“, sagte ein Regierungssprecher gestern.

Ließe sich der Brexit überhaupt rückgängig machen? Gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags verliert Großbritannien zwei Jahre nach dem am 29. März 2017 gestellten Austrittsgesuch seine Mitgliedschaft – es sei denn, London zieht den Antrag zurück. Ob dies im Einvernehmen mit der EU erfolgen muss oder London im Alleingang handeln kann, ist unklar, denn Artikel 50 sieht diese Möglichkeit eigentlich nicht vor.

In Großbritannien selbst gibt es zwei Möglichkeiten für den Exit vom Brexit. Erste Option: Die Regierung entscheidet sich gegen den EU-Austritt – denn sie ist nicht rechtlich dazu verpflichtet, das Ergebnis des Referendums umzusetzen. Zweite Option: Die Regierung beschließt die Durchführung eines zweiten Referendums. Dieser Beschluss müsste allerdings vom Parlament abgesegnet werden – auf die Gefahr hin, dass Hardcore-Europagegner in der Regierungspartei Mays Regierung zu Fall bringen. Ob die Premierministerin angesichts der bisherigen Brexit-Verhandlungsergebnisse im Amt bleiben wird, ist sowieso fraglich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2018)

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