Die Freilassung des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel nach etwas mehr als einem Jahr Gefängnis dürfte kaum Schule machen: Drei Journalisten wurden zu lebenslanger Haft verurteilt.
Istanbul. Eiskalt fegt der Wind über die Ödnis außerhalb von Istanbul, wo das Hochsicherheitsgefängnis Silivri wie eine Festung aufragt. Die Wolken hängen tief über Silivri. An den Zufahrtsstraßen, vor dem Tor und an allen Türen stehen schwerbewaffnete und maskierte Posten. Personal, Besucher, Anwälte und Sicherheitsleute bevölkern die wie eine Kleinstadt anmutende Anlage, komplett mit Verkehr, Fußgängern, Teehäusern und Moschee.
Um 15.30 Uhr fährt eine schwarze Limousine mit diplomatischem Kennzeichen durch den Haupteingang in das Gefängnis ein – und kommt nicht mehr heraus. Denn der Mann, der von der Limousine abgeholt wird, soll möglichst ohne großes Spektakel das riesige Gefängnisgelände verlassen. Für Deniz Yücel (44), den deutsch-türkischen Türkei-Korrespondenten der „Welt“, bringt der schwarze Wagen die Freiheit. Zehn Minuten, nachdem die Limousine durch das Gefängnistor gerollt war, veröffentlicht Yücels Anwalt Veysel Ok auf Twitter ein Foto: Yücel, in Jeans und schwarzer Jacke, umarmt seine Frau Dilek, die ihn mit einem Strauß Petersilie begrüßt: eine Erinnerung an den ersten gemeinsamen Urlaub. Nur Ok und deutsche Diplomaten beobachten das Wiedersehen auf einer menschenleeren Straße zwischen Knastgebäude und Gefängniszaun.
Die „Gärtner des Terrorismus“
Vorn, wo Journalisten auf Yücel warten, verkündet der Oppositionsabgeordnete Bariş Yarkadaş, Yücel sei durch einen Hinterausgang aus dem Gefängnis gebracht worden. Dass großer Rummel bei Yücels Entlassung vermieden werden soll, hängt mit dem zusammen, was sich sonst noch abspielt in Silivri an diesem Tag. In den Minuten, in denen Yücel seine Zelle verlassen und seine Frau umarmen kann, verurteilt ein im Gefängniskomplex tagendes Gericht die Journalistenbrüder Ahmet und Mehmet Altan sowie die Kolumnistin und Ex-Abgeordnete Nazli Ilicak zu lebenslangen Haftstrafen.
Gnadenloser könnte der Kontrast zwischen dem Fall Yücel und dem Schicksal vieler türkischer Journalisten an diesem Tag nicht ausfallen. Bei Mehmet Altan hatte sogar das türkische Verfassungsgericht im Jänner bereits die Freilassung angeordnet, doch das untergeordnete Gericht weigerte sich einfach, Altan gehen zu lassen. Jetzt soll er mit seinem Bruder und Ilicak lebenslang ins Gefängnis, weil er mit seiner Arbeit den Putschversuch gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2016 begünstigt haben soll. „Gärtner des Terrorismus“ hat Erdoğan unbotmäßige Journalisten genannt und damit gezeigt, wie Kritiker auch dann zu Gewalttätern erklärt werden können, wenn sie nichts anderes tun als Zeitungsartikel zu schreiben.
Deutscher müsste man sein, kommentieren Erdoğan-Gegner auf Twitter, als sich die Nachricht von der Freilassung Yücels verbreitet. Dass der „Welt“-Korrespondent einen Tag nach den Gesprächen des türkischen Premierministers Binali Yildirim mit Kanzlerin Angela Merkel in Berlin freikommt, zeigt glasklar, wie sehr die türkische Justiz zur Befehlsempfängerin Ankaras geworden ist, heißt es.
Ein ganzes Jahr ohne Anklage
Schließlich saß Yücel ein ganzes Jahr ohne Anklageschrift ein. Doch in dem Moment, in dem Yildirim in Berlin von der Hoffnung auf ein baldiges Ende des Falles spricht, zaubert die Staatsanwaltschaft in Istanbul plötzlich eine Anklage gegen Yücel aus dem Hut. Darin wird bis zu 18 Jahre Haft wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung verlangt – Standardvorwürfe gegen inhaftierte türkische Journalisten. Doch bei Yücel ordnet der zuständige Richter sofort die Freilassung ohne Auflagen an. Kein Wunder, dass so mancher der rund 150 türkischen Journalisten hinter Gittern sich dieselben Berliner Schutzengel wünschen, wie Yücel sie hatte.
Indem man Yücel ziehen lässt, räumt Ankara nach seinem Verständnis die größten Probleme im Verhältnis zu Deutschland aus dem Weg. Alle Schwierigkeiten mit Berlin seien bereinigt, sagte Yildirim am Tag von Yücels Freilassung. Das ist möglicherweise ein wenig optimistisch. Zudem könnte die wohl von oben angeordnete Flexibilität der türkischen Justiz für Yildirim und Erdoğan einen innenpolitischen Preis haben.
In türkischen Internetforen läuft am Freitag als Dauerschleife eine Szene aus einem Fernsehinterview Erdoğans aus dem vergangenen Jahr: „Und wenn sich die Deutschen auf den Kopf stellen, Yücel kommt nicht frei. In meiner Amtszeit auf keinen Fall“, sagt Erdoğan und nennt den Reporter einen „Terroristen“ und „Agenten“. Es gebe genügend Beweise gegen ihn. Doch nun wird Yücel eben doch sang- und klanglos freigelassen. An Bord einer deutschen Regierungsmaschine hat er die Türkei Freitagabend in Richtung Berlin verlassen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2018)