Ära Merkel IV beginnt mit Dämpfer

Das war knapp: 364 von 709 Abgeordneten votierten für Kanzlerin Merkel.
Das war knapp: 364 von 709 Abgeordneten votierten für Kanzlerin Merkel. (c) APA/AFP/JOHN MACDOUGALL (JOHN MACDOUGALL)
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Merkel wird mit nur knapper Mehrheit zur Kanzlerin gewählt. Es gibt 35 Abweichler in der Koalition. Präsident Steinmeier spricht von „Bewährungsjahren für die Demokratie“.

Wien/Berlin. Angela Merkel winkt ihren Vertrauten auf der Tribüne des Bundestags zu. Darunter sind auch zwei Frauen. Beide scheuen für gewöhnlich die Öffentlichkeit. Und beiden verdankt Merkel viel, der einen sogar ihr Leben: Herlind Kasner ist gekommen, Merkels rüstige 89-jährige Mutter, die noch immer an einer Volkshochschule Englisch lehrt. Neben ihr sitzt Beate Baumann, die schweigsame und loyale Büroleiterin im Kanzleramt, die viele für die zweitmächtigste Frau im Land halten und die Merkel schon vor 26 Jahren zur Seite stand, also zu einer Zeit, als die heutige Kanzlerin noch vielfach belächelte Frauenministerin war.

So beginnt also Tag 171 nach der Wahl – und Tag eins von Merkels vierter Kanzlerschaft. Denn kurz darauf wird die 63-Jährige zur Regierungschefin gewählt. Sie erhält 364 von 709 Stimmen. Das reicht knapp. 355 Stimmen waren nötig. Allerdings verfügen die Union und SPD zusammen über 399 Stimmen. Es gab also mindestens 35 Abweichler in den eigenen Reihen. Ein Dämpfer. Kurz herrscht Stille, als das Ergebnis verlesen wird. Erst dann setzt Applaus ein. Ein paar interne Gegenstimmen gibt es zwar immer. Bloß ist die Große Koalition (GroKo) diesmal eben ziemlich klein. Zehn Stimmen weniger, und Merkel hätte die Kanzlermehrheit verpasst. So knapp war es noch nie für sie.

„Kann mich nur wundern“

Wer tanzte aus der Reihe? „Ich kann mich nur wundern“, sagt Andrea Nahles, SPD-Fraktionschefin. Bei ihren Genossen sei „die Lage sehr geschlossen gewesen“. Nahles will also den Eindruck erwecken, die Abtrünnigen seien aus den Reihen von Merkels Union gekommen. Die Abstimmung war jedoch geheim. Wie auch immer.

Die Kanzlerin muss weiter. 1,5 Kilometer sind es zum Schloss Bellevue zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dem Schirmherren der neuen GroKo. Ende November, nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche, hatte Steinmeier die SPD erfolgreich bedrängt, von ihrem Nein zur GroKo abzurücken, und damit Neuwahlen verhindert. Im Schloss Bellevue ernennt Steinmeier nun Merkel zur Kanzlerin. Das Prozedere, ganz ohne Pomp und sehr deutsch, dauert keine Minute.

„So wahr mir Gott helfe“

Eine Stunde später steht Merkel schon wieder im Bundestag und legt ihren Amtseid ab: „So wahr mir Gott helfe“. Damit ist die längste Regierungsbildungskrise der Nachkriegsgeschichte auch ganz formal zu Ende. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wünscht der Kanzlerin noch „alles Gute auf ihrem schweren Weg“. Merkels für Freitag geplante Paris-Reise zu Emmanuel Macron dürfte er damit aber nicht gemeint haben.

Dann sind die 15 Bundesminister an der Reihe. Zunächst bei Präsident Steinmeier. Einer nach dem anderen steigt vor dem Schloss Bellevue aus den schwarzen Limousinen, Katarina Barley zum Beispiel, die neue SPD-Justizministerin, die Gerüchten zufolge auch deshalb nicht Außenministerin wurde, weil sie Nahles in dieser Position gefährlich hätte werden können. Stattdessen zieht Heiko Maas ins Auswärtige Amt ein, der sich gestern wie immer im Maßanzug zeigte. Auch Jens Spahn ist da, Merkels interner CDU-Kritiker, der sich mit der neuen Rolle als Gesundheitsminister nicht begnügen will. In diesen Tagen löste er eine heftige Sozialdebatte aus, als er meinte: „Hartz IV bedeutet nicht Armut.“

Vor der Ernennung der Minister zitiert Steinmeier einen Bürger: „Das wurde auch Zeit.“ Der Präsident bittet um einen „Vertrauenskredit“ für die neue Regierung, warnt das Kabinett Merkel IV aber auch: „Ein schlichter Neuaufguss des Alten wird nicht genügen.“ Steinmeier spricht von „Bewährungsjahren für die Demokratie“, die von innen und außen unter Druck geraten sei. Er spielt dabei wohl auch auf die rechtspopulistische AfD an, den Neuling im Bundestag, der dort nun die Opposition anführen wird.

Ein AfD-Abgeordneter, Petr Bystron, wurde gestern zur Zahlung von 1000 Euro Ordnungsgeld verpflichtet: Er hatte seinen Abstimmungszettel fotografiert und getwittert. Die AfD-Fraktionsspitze zierte sich, entgegen der Gepflogenheiten, Merkel zur Wahl zu gratulieren, rang sich dann aber doch zu einem Händedruck durch. Und Ex-AfD-Chefin Frauke Petry, derzeit fraktions- und erfolglos mit ihrer neuen Blauen Partei, schenkte Merkel das Buch „Höhenrausch – die wirklichkeitsleere Welt der Politiker“. Merkels vierte und schwierigste Kanzlerschaft hat begonnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2018)

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