Ungarn: Budapest rebelliert gegen Orbán

People attend a protest against the government of Prime Minister Viktor Orban in Budapest
People attend a protest against the government of Prime Minister Viktor Orban in Budapest(c) REUTERS (BERNADETT SZABO)
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Bei erneuten Massenprotesten in der Hauptstadt wurden unter dem Motto „Wir sind die Mehrheit“ Neuwahlen gefordert. Die Demos könnten für Orbán zunehmend zum Problem werden.

Budapest. Großungarische Jobbik-Fahnen wehen neben dem Anarchisten-Stern und der Europaflagge: In seltener Eintracht zogen am Wochenende wieder Zehntausende Anhänger aller Oppositionskräfte durch die Budapester Innenstadt, um gegen den Wahlsieg von Ministerpräsident Viktor Orbán bei den Parlamentswahlen vom 8. April zu protestieren.

Diese Proteste sind anders als frühere Kundgebungen gegen die Regierung: Nicht nur nehmen weitaus mehr Menschen teil. Es ist auch Ungeduld zu spüren – eine Entschlossenheit, das Wahlergebnis nicht hinnehmen zu wollen. Am 14. April zogen etwa 100.000 Demonstranten durch die Stadt, und jetzt wieder: Endlos strömt die Menge vom Parlament über den Boulevard zum Astoria-Hotel, und von dort zum „Platz der Pressefreiheit“ an der Elisabethbrücke.

Stadt gegen Land

„Wir wollen, dass Orbán geht“, sagt István Holczer, der mit seiner Frau Éva bei den Wahlen für die grüne Partei LMP gestimmt hat. Das Paar neben ihnen will auch, dass Orbán zurücktritt. Die zwei stimmten für Jobbik, eine Partei, die früher extrem rechts stand – und heute immer noch rechts genug steht. „Orbán, hau ab!“, stimmen die beiden Paare in die skandierende Menge ein, so laut und plötzlich, dass dem Reporter fast der Stift aus der Hand fällt.

Warum soll Orbán weg? „Weil er schlimm ist“. Wie soll er gehen? „Wissen wir nicht“. Wer soll statt ihm regieren? „Wissen wir auch nicht. Das ist ja das Problem“, sagt Éva Holczer. Die aus zu vielen zu kleinen Parteien bestehende Opposition könne sich nie einigen. Was also tun? „Wissen wir nicht – wir können nur demonstrieren. Und hoffen, dass etwas passiert.“

Árpád Kasza hat die kleine, mit den Sozialisten verbundene Partei Párbeszéd gewählt. Er hofft auf eine Palastrevolution: Wenn der Druck der Straße so groß werde, dass in der Regierungspartei Orbán allmählich eher als Last denn als Vorteil empfunden werde, dann genüge „eine Anzeige beim Staatsanwalt, um ihn wegen Korruption vors Gericht zu bringen.“

Auf der Kundgebung beginnen indes die Reden. Geführt werden sie nicht von den bekannten Gesichtern aus den Parteien, hier regiert die Zivilgesellschaft: Studentenführer, Aktivisten. „Wir sind die Mehrheit“, heißt es immer wieder, als hätte nicht die Regierungspartei Fidesz mit 48 Prozent der Stimmen die klare relative Mehrheit errungen, während selbst die stärkste Oppositionskraft, Jobbik, deutlich unter 20 Prozent blieb. „Wir werden nicht zulassen, dass sie die Wahl stehlen“, skandiert die Menge. Für die Demonstranten hat Orbán „nur“ 48 Prozent bekommen: Die Mehrheit habe gegen ihn gestimmt. Gefordert wird eine Änderung des „undemokratischen“ Wahlgesetzes und Neuwahlen.

Dabei hatte Orbán 2014 mit nur 43 Prozent die Zweidrittelmehrheit errungen. Aufgrund des neuen Wahlrechtes brauchte er diesmal dafür 48 Prozent: Unter dem alten Wahlrecht wäre sein Sieg noch höher ausgefallen.

Budapest hat aber stärker denn je links gewählt. In der Hauptstadt war man sich vor der Wahl sicher, dass die Parlamentswahl diesmal Orbán schwächen würde. Es kam anders: Der Premier verbuchte einen Erdrutschsieg. Der Frust ist groß. Auf Facebook hetzen Budapester Orbán-Gegner gegen die „Schafe“ aus der Provinz, die für die Regierung stimmten. Land gegen Stadt: In Ungarn war dieser Gegensatz schon immer größer als anderswo. Aber diesmal fühlt es sich fast so an, als hätten die Budapester keine Lust, den Willen der Mehrheit in der Provinz gelten zu lassen. Orbán hat also Budapest verloren, so viel ist klar. Es sieht nicht so aus, als könne er die Hauptstadt wieder für sich gewinnen. Das kann ihm längerfristig Probleme bereiten.

Wenn das neue Parlament am 8. Mai zusammentritt, wollen die Budapester wieder demonstrieren. „Diese Regierung wird sich nicht über die volle Legislaturperiode halten können“, sagt András Fekete-Györ von der liberalen Momentum-Partei, die bei der Wahl magere drei Prozent erhielt. Die Initiative zu Protesten kam aber ohnehin nicht von den Oppositionsparteien, sondern von einem Studenten. Einige zivilgesellschaftliche Organisatoren sprechen bereits von „Revolution“.

Auf einen Blick:

Unter dem Motto „Wir sind die Mehrheit“ demonstrierten in Budapest erneut Zehntausende gegen die Regierung und restriktive Medienpolitik von Premier Viktor Orbán. Bereits in der Vorwoche hatte unter demselben Motto eine Protestaktion stattgefunden. Die nächste Demo soll am 8. Mai stattfinden, wenn das neue Parlament erstmals zusammenkommt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2018)

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