Italien sieht sich für die Aufnahme von Migranten nicht mehr allein verantwortlich und ließ die Lage eskalieren.
Rom/Madrid. Die Aufnahme von im Mittelmeer geretteten Migranten wurde Anfang der Woche zum Nervenkrieg. Schon seit dem Wochenende war das Schiff Aquarius mit 629 Menschen an Bord rund 35 Seemeilen vor Italien und 27 vor Malta getrieben. Die italienische Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung (MRCC) hatte das Rettungsschiff nach Malta dirigiert. Doch die maltesische Regierung verweigerte die Einfahrt in ihre Häfen. Italiens neue Regierung signalisierte gleichzeitig, dass sie nicht mehr bereit sei, das Flüchtlingsproblem allein ohne Hilfe der EU-Partner zu schultern.
Da sich auch Kinder, Minderjährige und schwangere Frauen an Bord befanden und diesen am Montag langsam die Essensvorräte ausgingen, zeigte sich Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez bereit, die Aquarius in den Hafen von Valencia einlaufen zu lassen.
Italiens Neo-Innenminister, Matteo Salvini, hatte den Fall offenbar nutzen wollen, um sein Profil als Hardliner in Sachen Migration zu schärfen. Die Schließung der Mittelmeerroute, Kritik an Flüchtlingshelfern sowie Forderungen zu einer radikalen Neuorientierung der Flüchtlingspolitik im Mittelmeer waren die Hauptwahlkampfthemen des Chefs der rechtspopulistischen Lega gewesen. Nun droht er mit der Schließung der italienischen Häfen. „Italien sagt jetzt nicht mehr Ja und folgt. Diesmal sagen wir Nein.“
Tatsächlich hat Italien in den vergangenen Jahren die Hauptlast bei der Aufnahme von im Mittelmeer geretteten Flüchtlingen getragen. Allein in diesem Jahr sind laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) 13.700 Migranten in Italien angekommen – mehr als in Griechenland oder Spanien. Insgesamt ist die Zahl der Ankommenden gegenüber dem Vorjahr jedoch deutlich zurückgegangen.
„Die Ankunft und die Verpflegung von Hunderttausenden „Nicht-Flüchtlingen“ kann nicht ein italienisches Problem bleiben“, schrieb Salvini anlässlich des Streits um die Aquarius auf Twitter. „Entweder Europa hilft uns, oder wir werden alternative Wege finden müssen.“ Aktuell dürfte der „alternative Weg“ ein Abschotten der italienischen Häfen sein. Ob dies allerdings durchhaltbar ist, muss bezweifelt werden. Denn zuletzt hatte unter anderem der Bürgermeister von Neapel betont, er werde die Migranten willkommen heißen. Die Häfen stehen nicht unter Aufsicht der Zentralregierung in Rom, sondern der lokalen Verwaltung.
Im aktuellen Fall der Aquarius dürften die Migranten in libyschen Gewässern von ihren unzureichenden Booten gerettet worden sein. Die Besatzung des Rettungsschiffs hatte sie aus humanitären Gründen nicht nach Libyen zurückgebracht. Der nächstgelegene Hafen auf europäischer Seite des Mittelmeers wäre jener von Malta gewesen. Doch dort war ihnen die Aufnahme verweigert worden. Der maltesische Premier Joseph Muscat beschuldigte Italien, gegen internationale Regeln verstoßen zu haben. Er verweist darauf, dass die Rettungsaktion von der italienischen Küstenwache koordiniert worden sei.
Gab es einen Deal mit Malta?
Der Streit zwischen Malta und Italien könnte auch damit zu tun haben, dass die vergangene italienische Regierung mit dem Inselstaat eine informelle Vereinbarung getroffen hatte, die nun von der neuen Regierung in Rom de facto aufgekündigt wurde. Denn seit geraumer Zeit wurden nur noch wenige im Mittelmeer gerettete Migranten von der italienischen Küstenwache nach Malta dirigiert. Dem Vernehmen nach hat Italien im Gegenzug für Ölbohrungsrechte die meisten Migranten selbst übernommen. Einen Beleg für diesen Deal gibt es allerdings nicht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2018)