Wahlen in der Türkei: Wenn Erdoğan weiterregiert

Recep Tayyip Erdoğans Image hat Kratzer bekommen, aber der Politiker ist nach wie vor populär. Er kandidiert für eine zweite Amtszeit als Präsident.
Recep Tayyip Erdoğans Image hat Kratzer bekommen, aber der Politiker ist nach wie vor populär. Er kandidiert für eine zweite Amtszeit als Präsident. (c) Getty Images (Chris McGrath)
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Die Opposition ist aufgewacht, aber der Präsident bleibt populär. Mit einer weiteren Amtszeit will er das Land endgültig umkrempeln und 2023 unbedingt an der Staatsspitze stehen.

Es waren mühsame Wochen für die erfolgsverwöhnte türkische Regierungspartei. In den vergangenen 16 Jahren hat die AKP mitsamt allen Parlaments- und Kommunalwahlen, zwei Referenden und einer Präsidentschaftswahl elf Wahlkämpfe erfolgreich geschlagen, nur der eben zu Ende gehende zwölfte sollte sich als richtig schweißtreibend herausstellen. Einem ermüdeten Recep Tayyip Erdoğan stand eine Opposition gegenüber, die sich nach einem Jahrzehnt Dämmerschlaf aufgerafft hat.

Die Kemalisten schickten mit Muharrem Ince einen Charismatiker ins Rennen, der wie ein Messias die Plätze füllt, die Nationalisten haben mit Meral Akşener eine neue, energische Schlüsselfigur, die prokurdische Partei betrieb mit Selahattin Demirtaş öffentlichkeitswirksam Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus. Bisweilen hat die punktuell zusammenarbeitende Opposition Erdoğan thematisch vor sich hergetrieben. Und die AKP-Spitze hat sich sicherlich mehr als einmal gefragt, ob der Zeitpunkt für die vorgezogenen Neuwahlen eine so gute Idee war.

Aber nichts davon bedeutet, dass die Ära Erdoğan zu Ende ist. Keine Umfrage sieht ihn unter 40 Prozent. Ohne Kampf wird er seinen Posten wohl nicht aufgeben. Vielmehr will Erdoğan seine Visionen bis 2023, zum 100. Jahrestag der Republikgründung, nach seiner Façon umgesetzt haben. Das wird im Wahlprogramm erneut betont und betrifft zunächst die Umwandlung der Türkei in eine Präsidialrepublik, die mit den Wahlen am Sonntag zementiert wird. Der AKP-Lesart zufolge wird das Parlament im neuen System „noch stärker, noch unabhängiger“ sein, obwohl die Opposition genau das Gegenteil befürchtet. Doch was würde eine weitere Amtszeit der AKP bedeuten?

1 Die Außenpolitik und die EU

In außenpolitischer Hinsicht wird sich Ankara mehr um die türkeistämmige Diaspora sowie um die Lage der Muslime in Europa kümmern. Das Land will sich quasi als globaler Fürsprecher der Muslime und insbesondere der Palästinenser positionieren. Hilfsgelder sollen vornehmlich in Länder wie Bosnien, Syrien und Myanmar fließen.

Darüber hinaus will Ankara eine Zweigstelle der Organisation für Islamische Zusammenarbeit nach Istanbul holen. Das Thema EU-Beitritt kann für Ankara nicht vom Tisch sein, ein Großteil der Bevölkerung ist schließlich prowestlich. Die Türkei sieht ihr Engagement in anderen Weltregionen als Ergänzung zum EU-Beitritt an, nicht als Alternative. Aber Brüssel scheint nur pro forma auf dem Plan zu stehen. Es ist fraglich, ob in absehbarer Zeit substanzielle Ergebnisse vorliegen. Denn die Fronten sind seit den Putschsäuberungen verhärtet.

2 Minderheiten und Laizismus

Ohne die Lösung der Kurdenfrage hat die Türkei keine Chance auf dauerhaften Frieden. Das wissen alle. Nur die Umsetzung scheint unter der aktuellen Konstellation nahezu unmöglich. Für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses muss die AKP auf die prokurdische HDP zugehen. Aber nach den militärischen Operationen der Regierung im Südosten des Landes lehnt die aktuelle HDP-Führung den Dialog mit den jetzigen AKP-Vertretern ab. Die Regierungspartei wiederum rühmt sich, Minderheiten wie den Kurden weiträumige Rechte zugestanden zu haben. Ein Teil dieser Rechte wurde nach dem gescheiterten Putsch aber wieder zurechtgestutzt, etwa mit der Schließung von kurdischsprachigen Sendern. Den Aleviten wiederum hat Erdoğan im Wahlkampf versprochen, ihre spirituellen Zentren – Cemevi – den sunnitischen Moscheen gleichzustellen. Die Aleviten bleiben skeptisch.

Den Laizismus will die AKP auch mit der Präsidialrepublik nicht antasten, allerdings definiert sie den kemalistisch geprägten Begriff neu: Statt „Unterdrückung“ der Religionen, wie sie sagt, bekennt sich die Partei zur Multireligiosität und Glaubensfreiheit. Heißt: Die Arbeit der religiösen Stiftungen, das betrifft insbesondere die islamischen, wird erleichtert.

3 Justizund Post-Putsch-Säuberungen

Für eine starke Justiz – auch damit wirbt die AKP. Dabei räumt die Präsidialrepublik dem Staatsoberhaupt ein, direkt in das Personalwesen einzugreifen. Ob die Unabhängigkeit dann gegeben ist, das ist die andere Geschichte, zumal ein nicht unerheblicher Teil des aktuellen Justizwesens sehr wohl nach der AKP-Pfeife tanzt. Unterdessen wird die Ausmerzung der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen fortgeführt. Des Weiteren will es die AKP schaffen, dass auch in europäischen Ländern die Bewegung als Terrororganisation eingestuft wird. Zugeständnisse in Richtung der vielen Eingesperrten, seien es die Gülenisten oder andere Oppositionelle, sind nach jetzigem Stand nicht zu erwarten. Lediglich den Ausnahmezustand will Erdoğan – nach massivem Druck der Opposition – beenden.

4 Investitionen und Wirtschaft

Die Regierung kündigt milliardenschwere Investitionsprogramme an. Das geht von aktiver Frauenpolitik bis hin zu Digitalisierung, der Schaffung von riesigen Industriezentren, Modernisierung der Landwirtschaft und Ausbau des Gesundheitswesens sowie Infrastruktur. Programme wie diese haben den Erfolg der AKP erst möglich gemacht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2018)

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