Nicaragua: „Es war eine schmerzensreiche Schlacht“

Paramilitärs im Rebellenviertel Monimb´o: „Die Lage in Nicaragua ist extrem besorgniserregend“, sagt der Sekretär der interamerikanischen Menschenrechtskommission.
Paramilitärs im Rebellenviertel Monimb´o: „Die Lage in Nicaragua ist extrem besorgniserregend“, sagt der Sekretär der interamerikanischen Menschenrechtskommission.APA/AFP/MARVIN RECINOS
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Der Präsident von Nicaragua, Daniel Ortega, lässt Demonstrationen im eigenen Land brutal niederschlagen. Mehr als 350 Menschen kamen dabei bisher ums Leben. Der katholischen Kirche wirft Ortega vor, Teil eines Staatsstreichs zu sein.

Welch „Tag der Freude!“ Die Sonne strahlt, und der Wind vom Managua-See lässt die Fahnen stolz wehen. Die Nationalflagge in Blau-Weiß-Blau und vor allem die schwarz-rote der sandinistischen Front, die genau 39 Jahre vor diesem festlichen Donnerstag den Sieg über den Diktatorenclan Somoza hatte erringen können. Um das Revolutionsjubiläum, das ganz offiziell als „Tag der Freude“ begangen wird, zu feiern, sind Zehntausende Bürger gekommen, viele tragen T-Shirts mit der Aufschrift: „Reine Liebe für den Frieden“. Und der Mann im blütenweißen Hemd, der auf der Pritsche eines Pick-up-Trucks durch das revolutionäre Fahnenspalier zur Bühne gekarrt wird, wiederholt an diesem Tage vor allem ein Wort: „Frieden, Frieden, Frieden“, ruft er über das weite Areal, das noch dazu Plaza de la Fé heißt, Platz des Glaubens. Der Friedensprediger heißt Daniel Ortega und regiert mit harter Hand und blumigen Worten über die gut sechs Millionen Bürger Nicaraguas. Und damit sich daran nichts ändert, hat er kurz vor den Jubelfeiern Frieden schaffen lassen, bleiernen Frieden, Friedhofsfrieden.

Antwort auf Studentenproteste. „Es war eine schmerzensreiche Schlacht“, sagt der 72-Jährige und bezieht sich nicht auf den Sieg anno 1979. Er spricht von heute, von der staatlichen Antwort auf Studentenproteste, vom Kugelhagel auf Universitäten, auf Kirchen. Er meint seine paramilitärischen Trupps, die, vermummt, schwer bewaffnet und unterstützt von Drohnen, nun die Häuser absuchen nach denjenigen Bürgern, die unter Frieden etwas anderes verstehen als die Allmacht des Daniel Ortega und die Gier seiner Günstlinge. Bei 351 hielt am 10. Juli die Statistik der Todesopfer der „schmerzensreichen Schlacht“. Die Gruppe „Pro Menschenrechte Nicaragua“ sammelt diese Daten, seitdem bei Protesten in Universitäten die ersten Regimegegner umkamen. Das geschah am 19. April, auf den Tag genau drei Monate vor diesem „Tag der Freude“. Die Ziffer 351 beinhaltet die 21 Toten bei den Säuberungen in den Provinzstädten Jinotepe und Diriamba. Aber sie verzeichnet nicht Josué Rafael Palacios, der das Revolutionsjubiläum nicht mehr erleben durfte. Er starb am Dienstagmorgen durch einen Schuss in seinen Brustkorb. Er war das erste von acht Todesopfern der Eroberung von Monimbó, dem indigenen Viertel der Provinzsstadt Masaya, die dereinst der Somoza-Herrschaft wehrhaft widerstanden hatte, bis der Diktator sie bombardieren ließ. Und die am vorigen Dienstag von Ortegas Polizisten und Paramilitärs „befriedet“ wurde.

Was sich dieser Tage in Nicaragua ereignet, scheint die viel bemühte These zu widerlegen, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Daniel Ortega hat 1979 zu den Führern der Rebellen gehört, die im Namen des Widerstandskämpfers Sandino einen korrupten, brutalen und mit fremden Mächten liierten Familienclan vertrieben haben. Und nun muss er fürchten, dass ihm, seiner Gattin und Vizepräsidentin, Rosario Murillo, und ihren neun Kindern ebenfalls die Schalthebel entrissen werden, die sie sich angeeignet haben, seit Ortega 2006 wieder in die Präsidentschaft gewählt worden ist.

Dass er dort eine ähnliche Machtfülle anhäufen konnte wie der einstige Potentat Anastasio Somoza lag auch an einer fremden Macht. Aus Venezuela flossen günstiges Erdöl ebenso wie Kredite, Ortega konnte so gleichzeitig den Armen Sozialprogramme anbieten und die Unternehmer einseifen, wie er das schon mit der katholischen Kirche gemacht hatte. Für ein gutes Verhältnis zum Klerus kombiniert das Herrscherpaar einen pseudoreligiösen Diskurs mit einem rigiden Abtreibungsverbot.

Doch inzwischen sind diese Allianzen Scherben. Der sukzessive Verfall Venezuelas zwang Ortega zu jener Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge, die im April die ersten Proteste auslöste. Ortegas brutale Repression der Proteste trieb wiederum die Wirtschaftsführer in die Opposition. Die katholische Kirche versuchte zu vermitteln, kam aber inzwischen selbst unter Beschuss.

Der Korrespondent der „Washington Post“ musste sich vor einer Woche in der Hauptstadt, Managua, mit 200 Studenten vor den Häschern der Regierung von einem Uni-Campus in ein kleines Kirchengebäude retten. Während ein Priester per Handy versuchte, die Kirchenführung und lokale Radiosender zu alarmieren, feuerten die Paramilitärs auf das Gotteshaus. Erst am Morgen konnten katholische Kirchenführer eine Freilassung der Eingeschlossenen aushandeln. Zwei Studenten starben, mehrere wurden verletzt. Der Journalist twitterte Fotos der Geschosse, die zum Teil offenbar aus modernen halbautomatischen US-Waffen stammen, die Nicaraguas Uniformierte nicht zur Verfügung haben – aber sehr wohl die Drogenhändler. Nach Schätzungen des US-Außenministeriums kommen 90 Prozent des in die USA geschmuggelten Kokains über die zentralamerikanische Landbrücke.

„Tag der Freude“. Nun, am „Tag der Freude“, klagte Daniel Ortega: „Und ich dachte, die Bischöfe wären Vermittler. Aber nein! Sie sind den Putschisten verpflichtet.“ Putschisten sind für den Altrevolutionär Leute wie Josué Rafael Palacios, jener 33-jähriger Tischler, der gegen das Flehen seiner Frau auf die Straße gegangen war, um seinen Freunden beim Befestigen der Barrikaden im Rebellenviertel Monimbó zu helfen. Er war, wie viele andere Mitstreiter, unbewaffnet, als ihn die Kugel in den Brustkorb traf. Er verblutete auf offener Straße, weil ihm inmitten des Feuers der Paramilitärs niemand zu Hilfe eilen konnte. In der Diktion der Macht gehört der junge Tischler zu den „Terroristen“, die, so die Ortega-Gattin und Vizepräsidentin Murillo, in einem Zeitungskommentar in regimenahen Medien, „diabolische“ Absichten im Schilde führten.

Am Mittwoch nun bewegte sich der Trauerzug für Josué Rafael Palacios langsam durch das „befriedete“ Masaya, in dem an jeder Straßenecke immer noch diese Gestalten in blauen T-Shirts lungern, Gewehre in Händen und Sturmhauben über den Gesichtern. Wer hinter den Masken steckt, wird nicht so einfach herauszufinden sein, aber über den Auftraggeber herrscht kein Zweifel. Musikalisch geleitet von Trompeten, Posaunen und einer Tuba wurde der Sarg durch die Stadt getragen, bis es, hundert Meter vor dem Friedhofstor, fast zum Aufeinanderprall mit den neuen, gesichtslosen Herren kam, die sich in einem Sportklub neben dem Gottesacker installiert haben. Schon Hunderte Aufständische wurden verhaftet, zu Wochenanfang erließ das regierungsgesteuerte Parlament neue Gesetze, die Gefängnisstrafen von 20 Jahren wegen Rebellion ermöglichen.

Der Einsatz irregulärer Verbände gegen die Zivilbevölkerung und das spurlose Verschwinden Hunderter Bürger erinnern an die düstersten Zeiten der südamerikanischen Militärdiktaturen der 1970er-Jahre. Die interamerikanische Menschrechtskommission, die im Mai eine Untersuchung über den Konflikt anstellte, sieht mit den Säuberungsaktionen der vergangenen Woche sämtliche Verhandlungswege verstopft. „Die Lage in Nicaragua ist extrem besorgniserregend, und sie verschlechtert sich täglich“, sagte der Kommissionssekretär, der brasilianische Jusprofessor Paulo Abrao.

Vorigen Mittwoch verurteilten die ständigen Vertreter in der Organisation Amerikanischer Staaten in ungewohnter Geschlossenheit das Vorgehen der Ortega-Regierung und forderten die baldige Ausrufung von Neuwahlen. Für die Resolution stimmten auch die Vertreter der linken Regierungen aus Ecuador und Uruguay. Dagegen waren allein Nicaragua, St. Vincent und die Grenadinen und Venezuela. Vom einstigen Sponsor bekommt Nicaragua nicht mehr viel Geld, aber zumindest noch vollmundige Versprechungen. Als Besucher des „Freudentages“ verkündete Venezuelas Außenminister, Jorge Arreaza: „Wenn wir, das bolivarische Volk, die Revolutionäre von Venezuela, nach Nicaragua kommen müssten, um dessen Souveränität zu verteidigen, um unser Blut für Nicaragua zu opfern, dann würden wir das unternehmen wie einst Sandino.“

Eskalation

Seit April halten regierungskritische Demonstrationen und deren brutale Niederschlagung das mittelamerikanische Land Nicaragua mit seinen 6,4 Mio. Einwohnern in Atem. Der ehemalige Revolutionär Daniel Ortega hat sich zu einem autoritären Präsidenten gewandelt.

Die Wirtschaft leidet besonders stark unter der Krise. Die Arbeitslosigkeit ist von 3,7 auf sechs Prozent gestiegen, die Inflation von fünf auf 8,5 Prozent. Dem Tourismussektor könnten im Juli offiziellen Angaben zufolge umgerechnet 145 Mio. Euro verloren gehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2018)

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