Die britische Premierministerin und ihre Kabinettsmitglieder schwärmen in Europa aus, um vor den Konsequenzen eines harten EU-Austritts zu warnen. Am Mittwoch war Österreich an der Reihe.
Wien. Das Szenario ist bekannt, erprobt, von langer Hand geplant – und es geht folgendermaßen: Ein britischer Minister kündigt sich für eine Kurzvisite in einer europäischen Hauptstadt an. Dort konferiert er mit seinem Ressortkollegen, gibt eine Pressekonferenz und einige wenige Interviews. Die Botschaft ist stets die gleiche: Die Europäische Union solle sich davor hüten, Großbritannien bei den Verhandlungen über den EU-Austritt in die Enge zu treiben, denn ansonsten drohe ein harter, unkontrollierter Brexit mit unwägbaren negativen Konsequenzen für beide Seiten.
Am gestrigen Mittwoch war Wien der Schauplatz und Jeremy Hunt die handelnde Person: Der Nachfolger von Boris Johnson im Chevening House, dem britischen Außenamt, traf mit Amtskollegin Karin Kneissl zusammen, um sie – und Österreich – vor den Risiken eines Krachs zu warnen: „Dann wird das eine unschöne Scheidung mit großen Streitereien ums Geld und mit möglicherweise gewaltigen Erschütterungen in den Ökonomien Großbritanniens und der EU“, sagte Hunt im Gespräch mit der „Presse“ (siehe Seiten 2-3).
Damit folgt der britische Außenminister einem Skript, das in der Downing Street 10 verfasst wurde. Ministerpräsidentin Theresa May hat nämlich ihre Kabinettsmitglieder dazu vergattert, während der Sommermonate in Europa auszuschwärmen, um die anderen Unionsmitglieder auf die Konsequenzen eines harten Brexit hinzuweisen und für die britische Position in den Verhandlungen mit Brüssel zu werben. Das britische Verhandlungspaket, das May mit Mühe und Not Anfang Juli geschnürt hat – und das Hunts EU-skeptischen Vorgänger zum Rücktritt veranlasste – sieht vor, dass sich London nach dem Brexit beim Warenhandel an die EU-Regeln hält und an die EU-Zollunion angelehnt bleibt.
Die EU-Kommission, die im Namen der Unionsmitglieder mit den Briten verhandelt, ist skeptisch, weil sie erstens die britischen Zollpläne für unausgegoren hält, zweitens um die Integrität des gemeinsamen Binnenmarkts fürchtet, und drittens erst dann über den künftigen Beziehungsstatus sprechen will, wenn der Scheidungsvertrag fixiert und London seinen Scheidungsverpflichtungen nachgekommen ist. Die Reisen der britischen Regierungsmitglieder sollen unter anderem dazu dienen, die Brüsseler Behörde zu mehr Flexibilität in den Verhandlungen zu bewegen. Vor seiner Visite in Wien weilte Außenminister Hunt bereits in Deutschland und Frankreich, Innenminister Sajid David wurde nach Spanien abkommandiert, Wirtschaftsminister Greg Clark nach Rom beordert – wo er vergangene Woche, ähnlich wie Hunt gestern in Wien, vor den negativen wirtschaftlichen Konsequenzen eines unkontrollierten Brexit warnte.
Charmeoffensive in Fort de Brégançon
May selbst kommt bei diesen Bemühungen eine zentrale Rolle zu: Am morgigen Freitag bricht sie nach Frankreich auf, um in Fort de Brégançon, dem Mittelmeer-Sommersitz der französischen Präsidenten, mit Emmanuel Macron zu parlieren. Den Boden für das Treffen bereitet Brexit-Minister Dominic Raab vor, der am heutigen Donnerstag die französische Europaministerin Nathalie Loiseau besucht.
In London befürchtet man, dass Frankreich bei den Brexit-Verhandlungen die Kommission zu größtmöglicher Härte drängt, um vom EU-Austritt Großbritanniens zu profitieren – und den Finanzplatz Paris auf Kosten der City of London zu stärken. Im Élysée-Palast zeigt man sich von dieser Charmeoffensive bis dato unbeeindruckt: „Wenn man mit uns reden will, werden wir selbstverständlich zuhören. Das ändert aber nichts an den Abläufen“, sagte ein französischer Regierungsvertreter zur „Financial Times“.
Die Zeit drängt
Für May drängt die Zeit. Anfang Oktober muss sie beim Parteitag der Konservativen die europafeindlichen und -freundlichen Flügel der Tories davon überzeugen, dass ihr Brexit-Plan die einzige Aussicht auf einen Verhandlungserfolg ist. Die de facto einzigen Gelegenheiten, um Fortschritte zu erzielen, bieten sich beim informellen Außenministerrat in Wien am 30./31. August und dem informellen EU-Gipfel in Salzburg am 20. September. Denn das nächste reguläre Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs findet erst am 18. Oktober statt – zu spät, um die Einheit der Tories zu retten.
Dem EU-Ratsvorsitzenden Österreich kommt diese Brexit-Choreografie alles andere als gelegen. Die türkis-blaue Regierung hatte nämlich vorgehabt, in Salzburg vor allem über Migrationspolitik und Flüchtlingskrise zu sprechen. Die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien im Allgemeinen und Mays Nöte im Speziellen dürften nun deutlich mehr Raum einnehmen als geplant.
WANN TRETEN DIE BRITEN AUS
Brexit-Prozedur. Die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens erlischt am 29. März 2019 – unabhängig davon, ob sich London und Brüssel auf einen Scheidungsvertrag einigen oder nicht. Der Austritt lässt sich nur dann aufschieben, wenn Großbritannien einen entsprechenden Antrag stellt und die EU-27 einstimmig zustimmen.
Die Zukunft: Sollten sich die Verhandler auf ein Austrittsabkommen einigen, muss die Abmachung vom britischen Parlament, dem Rat und dem Europaparlament abgesegnet werden, bevor sie in Kraft treten kann. Über den Status der künftigen Beziehungen dürfen London und Brüssel erst konkret verhandeln, wenn Großbritannien zum Drittstaat geworden ist.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2018)