Kindergelddebatte erreicht Berlin

Knapp 270.000 Kinder im EU-Ausland erhielten Zahlungen aus Deutschland.
Knapp 270.000 Kinder im EU-Ausland erhielten Zahlungen aus Deutschland. (c) Reuters (Carlos Barria)
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Nach Österreich denkt nun auch die Große Koalition in Deutschland laut über die Indexierung des Kindergeldes nach. Überweisungen aus Berlin an EU-Ausländer haben eine Rekordzahl erreicht.

Wien/Berlin. Um kontroverse Aussagen ist Sören Link nicht verlegen. Und so ist es nicht das erste Mal, dass Vertreter einer Minderheit, in diesem Fall Sinti und Roma, eine Entschuldigung des Oberbürgermeisters von Duisburg verlangen. „Ich muss mich hier mit Menschen beschäftigen“, sagte Link jüngst mit Blick auf die Volksgruppe, „die ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen.“

Links Satz ist die eine Seite der aktuellen Kontroverse in Deutschland. Die andere: Schlepperbanden würden Menschen aus osteuropäischen Ländern in Duisburgs Problembezirken ansiedeln, um hier Sozialleistungen zu erschleichen. Link, im Übrigen ein Sozialdemokrat, zettelte damit eine breite Debatte über das Kindergeld an, denn weitere Städte wie Fürth und Bremerhaven stimmten mit ein und berichteten über Betrugsfälle, beispielsweise mit gefälschten Geburtsurkunden.

Ein bereits bekanntes Schema sei auch, dass Familien aus Ländern wie Rumänien und Polen sich zeitweise in Deutschland ansiedeln, aber nach Erhalt aller nötigen Dokumente und Bankkonten wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Dort sind die Lebenserhaltungskosten freilich niedriger. In Deutschland bleibe demnach, wenn überhaupt, nur mehr eine Person, aber Leistungen wie Kindergeld plus Hartz IV würden weiterfließen.

Tatsächlich verzeichnen deutsche Behörden eine Rekordzahl an Überweisungen für ausländische Familien: Knapp 270.000 Kinder im EU-Ausland erhielten im Juni Kindergeld-Zahlungen aus Berlin, darunter etwa 31.000 Kinder mit deutschem Pass. Die meisten betroffenen ausländischen Familien leben in Polen, Kroatien und Rumänien. Im Vergleich zu den Zahlen Ende 2017 stellen die aktuellen Überweisungen eine Zunahme von mehr als zehn Prozent dar.

Betrug in Nordrhein-Westfalen

Ist der starke Anstieg auf Manipulationen zurückzuführen? Nein, sagt die Bundesanstalt für Arbeit, wiewohl derartige Fälle sehr wohl festgestellt worden seien, vor allem in Nordrhein-Westfalen. Bei tatsächlich erwerbstätigen Elternteilen in Deutschland, die ihre Familie im Ausland haben, finde kaum Betrug statt. Fest steht jedenfalls, dass die Zahl der ausländischen Arbeiter in Deutschland sukzessive gestiegen ist. Das hängt nicht nur mit der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU zusammen, sondern auch mit der Nachfrage nach Fachkräften, etwa im Pflegebereich. Experten gehen davon aus, dass sich nach dem Brexit noch mehr europäische Ausländer in Deutschland niederlassen werden.

Just der Brexit brachte das Thema Kindergeld und die Indexierung überhaupt auf das Tapet. Um Großbritannien in der EU zu halten, zeigte sich Brüssel damals gesprächsbereit, das Kindergeld an das preisliche Niveau der jeweiligen Länder anzupassen. London müsste dann weniger Geld ins Ausland überweisen; in weiterer Folge hätten diese Regelung auch alle anderen EU-Länder adaptieren können. In der Zwischenzeit hat sich das Thema Großbritannien bekanntlich erledigt, und die EU-Kommission weist wieder Forderungen nach einer Indexierung, die nun aus Deutschland kommen, postwendend zurück. Die Große Koalition denkt nämlich laut über eine Neuregelung nach, fügt aber rasch hinzu, an einer europäischen Lösung arbeiten zu wollen.

Österreichs Alleingang

Brüssel hingegen verweist einmal mehr auf das Diskriminierungsverbot. Rumänische oder polnische Arbeiter liefern in gleichem Maße Steuern ab wie ein deutscher Arbeiter, und sie haben folglich auch dieselben Ansprüche.

Es waren denn auch diese Argumente, die Brüssel vor wenigen Wochen der österreichischen Bundesregierung ausrichtete. Wien will schließlich im Alleingang die Indexierung der Familienbeihilfe ab Januar 2019 umsetzen. Während sich die Regierung Einsparungen in Höhe von 100 Mio. Euro pro Jahr erhofft, befürchten Kritiker den Wegzug von dringend gebrauchten Pflegekräften aus hauptsächlich osteuropäischen Ländern. Die EU-Kommission hat jedenfalls angekündigt, das österreichische Gesetz ausführlich prüfen zu wollen. Im Jahr 2016 hat Österreich Familienbeihilfe an 130.000 im Ausland lebende Kinder bezahlt. (red.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2018)

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