Chemnitz: „Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd“

Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU).
Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU).(c) REUTERS (Hannibal Hanschke)
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Nach den Ausschreitungen in Chemnitz will Ministerpräsident Kretschmer differenzieren. Er kritisiert die Wortwahl von Bundeskanzlerin Merkel – diese widerspricht ungewöhnlich schnell.

Berlin/Chemnitz. Michael Kretschmer hat zugehört. Er hat viel gelesen, ist selbst nach Chemnitz gereist, hat sich im Stadtstadion den Fragen der Stadtbewohner gestellt. Jetzt redet er, ganze 30 Minuten lang. Eineinhalb Wochen nach dem Tod von Daniel H. und den massiven Protesten in Chemnitz gibt der sächsische Ministerpräsident im Dresdner Landtag eine Regierungserklärung ab.

Der CDU-Politiker will nichts beschönigen. Die Mordtat, die rechtsextremen Ausschreitungen, alles, was in Chemnitz passiert sei, „das kann nicht akzeptiert werden“. Kretschmer hat aber auch ein anderes Ziel: Er will das Gemeinschaftsgefühl im Bundesland stärken, Sachsen nach außen verteidigen. Vor jenen, die besorgt in Richtung Dresden blicken und ein Land der Rechtsextremen sehen. Er erklärt in seiner Rede den Rechtsextremismus zur „größten Gefahr für unsere Demokratie“. Durch die Stadt zu ziehen und den Hitlergruß zu zeigen dürfe nicht möglich sein. „Diesen Menschen sagen wir den Kampf an.“

Dann folgt das Aber: Nicht alle Chemnitzer, die jüngst „aus Wut und Enttäuschung“ demonstriert hätten, seien rechtsextrem. Vor allem aus der Ferne dürfe man nicht vorschnell urteilen. Und dann eine überraschende Aussage: „Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd in dieser Stadt.“

Damit meint Kretschmer Medienberichte und Aussagen über den Tag nach der Bluttat in Chemnitz. Menschen mit Migrationshintergrund (oder solche, die dafür gehalten wurden) seien demnach angegriffen worden. Einer der ersten, der von „Hetzjagden“ sprach, war Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Auch Kanzlerin Angela Merkel wählte den Begriff. Kretschmer kritisiert also auch „seine“ Bundeskanzlerin.

Diese reagierte am Mittwoch ungewöhnlich schnell: Es habe Bilder gegeben, die „sehr klar Hass“ und „die Verfolgung unschuldiger Menschen“ gezeigt hätten, sagte Merkel. Man habe Aufnahmen davon, wie Menschen nachgesetzt worden sei. Laut „Bild“ sah die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) selbst, wie Menschen verfolgt worden seien.

Kretschmer greift mit seinen Aussagen eine Theorie auf, die vom rechten Rand bereits länger verbreitet wird: In Artikeln und Videos wird bestritten, dass Menschen gejagt wurden.

Jagdszenen statt Hetzjagden?

Als Quelle wird dafür oft Torsten Kleditzsch von der „Freien Presse“genannt. Er schrieb in einer Erklärung: „Es gab Angriffe auf Migranten, Linke und Polizisten. So wurde Menschen über kurze Distanz nachgestellt.“ Man habe sie aber nicht über einen längeren Zeitraum vor sich hergetrieben. „Insofern wäre der Begriff Jagdszene noch gerechtfertigt.“ Hetzjagden seien es nicht gewesen.

Laut Generalstaatsanwaltschaft gibt es bisher 51 Ermittlungsverfahren nach den Protesten, unter anderem wegen Hitlergrüßen und Körperverletzungsdelikten. Das Videomaterial zeige bisher keine Hetzjagden. Man sei aber erst dabei, die Aufnahmen zu sichten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2018)

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