Die mit der Türkei verbündeten Milizen befolgen eine Vereinbarung. Doch viele Fragen bleiben offen, denn dschihadistische Gruppen fühlen sich nicht an den Deal gebunden und Assad will Idlib nach wie vor zurückerobern.
Istanbul. Panzer, Granatwerfer, Artillerieraketen – in den vergangenen Tagen haben türkeitreue Rebellengruppen in der nordwestsyrischen Provinz Idlib ihre schweren Waffen in einer Pufferzone an den Ost- und Südgrenzen des Gebiets abgegeben. Rechtzeitig vor dem Stichtag heute, Mittwoch, erfüllten die Milizionäre damit eine Bedingung, um eine Offensive der syrischen Armee und deren Partner Russland und Iran auf die letzte Rebellenhochburg zu verhindern.
Ein Pakt zwischen der Türkei und Russland soll eine humanitäre Katastrophe in der Provinz mit ihren drei Millionen Menschen verhindern. Doch die Gefahr einer Großoffensive ist noch nicht gebannt: Islamistische Extremisten wollen sich nicht aus der Pufferzone zurückziehen – und Syriens Regierung bleibt bei ihrem Ziel, Idlib zurückzuerobern.
Die von der Türkei unterstützten Milizen in der Nationalen Befreiungsfront (NFL) haben am Wochenende damit begonnen, ihre schweren Waffen aus der 15 bis 20 Kilometer breiten Pufferzone in Idlib herauszuschaffen. Mehrere Tausend protürkische Kämpfer bleiben jedoch mit leichten Waffen wie Sturmgewehren in der Zone. Niemand weiß, wie sich diese Kampfverbände, die den Sturz der syrischen Regierung anstreben, mit den russischen Soldaten vertragen werden, die bald zusammen mit Türken in der Pufferzone patrouillieren.
Streit um strategische Straßen
Doch das ist nur ein relativ kleines Problem. Wesentlich schwieriger zu lösen sind andere Fragen. So sieht die im russischen Badeort Sotschi ausgehandelte Einigung Moskaus mit Ankara vor, dass strategisch wichtige Überlandstraßen in Idlib von den Rebellen für den Verkehr freigegeben werden – laut einigen Berichten sollen die Straßen durch entmilitarisierte Korridore von sieben Kilometern Breite geschützt werden.
Für die Führung in Damaskus ist das Thema wichtig, weil die von Norden nach Süden durch Idlib verlaufende M5 sowie die nach Westen – Richtung Mittelmeer – abzweigende M4 bedeutende Versorgungswege zwischen Aleppo im Norden sowie Latakia im Westen und Hama und Damaskus im Süden darstellen. Für die Rebellen kommt der geforderte Rückzug von den Verkehrswegen allerdings weiteren Gebietsverlusten gleich.
Am kniffligsten ist der Umgang mit den dschihadistischen Gruppen in Idlib. Der Milizenverband Hayat Tahrir al-Sham (HTS), der mit seinen wohl 10.000 Kämpfern etwa 60 Prozent von Idlib beherrscht, hat bisher nicht klar zur türkisch-russischen Vereinbarung Stellung bezogen. Möglicherweise gibt es Spannungen innerhalb der Gruppe, die von früheren al-Qaida-Mitgliedern geführt wird.
„Das ist Hochverrat“
Die Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete, auch die schweren Waffen der HTS würden aus der Pufferzone gebracht. Mehrere HTS-Anführer betonten jedoch, die Aufgabe von Waffen sei „Hochverrat“. Kleinere Gruppen lehnen die Vereinbarung von Sotschi rundweg ab, doch ihre Stärke reicht für einen großen Aufstand gegen das Abkommen nicht aus.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2018)