Frankreich: Warum die Gelbwesten zornig sind

Szenen der Verwüstung. Frankreich ist schockiert von der gewalttätigen Wucht der Massenproteste gegen sinkende Kaufkraft und hohe Treibstoffpreise.
Szenen der Verwüstung. Frankreich ist schockiert von der gewalttätigen Wucht der Massenproteste gegen sinkende Kaufkraft und hohe Treibstoffpreise. (c) APA/AFP/THOMAS SAMSON
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Präsident Macron ließ sich von einer Protestbewegung überrumpeln, die aus der Provinz und von unten kommt. Seine Arroganz schürt die Wut.

Paris. Am Montag wurden in der französischen Hauptstadt zerschlagene Schaufenster von geplünderten Geschäften repariert, ausgebrannte Autos wegtransportiert und Reste von Barrikaden beseitigt. Diese Spuren der schweren Krawalle vom Samstag versinnbildlichen den Scherbenhaufen, vor dem Präsident Emmanuel Macron steht. Er steckt in einem Schlamassel, das er sich weitgehend selbst zuzuschreiben hat.

Das Staatsoberhaupt muss nun seine angefochtene Autorität gegen die immer radikaleren Forderungen der sogenannten Gelben Westen verteidigen. Macron hat seinem Premier, Édouard Philippe, den Auftrag erteilt, mit Vertretern der Parteien, Regionen – und Sprechern dieser Protestbewegung von Leuten in gelben Warnwesten über einen Ausweg aus der Krise zu verhandeln.

Die Abgehängten der Globalisierung

Nichts kann die mutwillige Gewalt und schweren Verwüstungen rechtfertigen. Schon eher verständlich erscheint die Wut der Menschen in ganz Frankreich, die sich in diesem Warn- oder Pannensymbol der „Gilets jaunes“ erkennen oder selbst seit nunmehr zwei Wochen an diesen Aktionen teilnehmen. Wenn sie hingehört hätte, wären der nicht ganz zu Unrecht als snobistisch verpönten Elite in Paris die Klagen der Zu-kurz-Gekommenen schon eher zu Ohren gekommen. Sie hat es vorgezogen, alle Probleme der wirtschaftlichen und sozialen Marginalisierung oder Verarmung zu verdrängen.

Seit Jahren ist bekannt, dass ganze Teile der Bevölkerung den Anschluss verpasst haben, weil sie in den Jahrzehnten der Globalisierung buchstäblich abgehängt worden sind: die Opfer des unaufhaltsamen Niedergangs der Industrie, die Bewohner in den Außenquartieren der Banlieue, die Jungen, die trotz Diplomen kein berufliches Auskommen finden, die Bürger in den Exkolonien in Übersee und vor allem jene in den ländlichen Regionen.

Lang aufgestaute Wut

In dieser Peripherie mangelt es nicht nur an Arbeitsplätzen. Auch Erwerbstätige verdienen oft nicht mehr genug, um sich über Wasser zu halten. Obwohl es in vielen Ortschaften keinen Bahnanschluss, keinen Arzt, keine Apotheke, keine Geschäfte und kein Café mehr gibt, bezahlen ihre Bewohner gleich viel Steuern und Abgaben – und müssen als Pendler bei steigenden Treibstoffpreisen erst recht viel ausgeben. Auslöser der Proteste waren folgerichtig die hohen Spritpreise und die Ökosteuer auf Diesel, die am 1. Jänner in Kraft tritt.

Auch ihnen hatte Macron bei seiner Wahl mehr Kaufkraft in Aussicht gestellt. Viele von ihnen sind nun erst recht wütend – über ihn und über sich, weil sie ihm geglaubt haben. Denn die Liberalisierung der Wirtschaft, von der sich Macron eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der französischen Unternehmen erhofft, jagt ihnen am Ende nur Angst ein. Natürlich stammen die strukturellen Nachteile und Handicaps, unter denen diese Bürger leiden, nicht erst von gestern, wie Macron sagt, sondern aus der Zeit seiner Vorgänger, die Frankreich nicht reformieren wollten. Ihre seit Langem angestaute Wut aber einfach ignorieren zu wollen ist entweder Zeichen der Unfähigkeit eines Dilettanten oder aber Ausdruck einer zynischen Arroganz.

84 Prozent haben Verständnis

Aus diesem Grund solidarisieren sich breite Bevölkerungsschichten heute mit den Gelbwesten. Ihnen erscheint der Präsident überheblich, aber letztlich findet fast jeder und jede einen Grund, auch über die zu hohen Steuern und die Bürokratie zu klagen und darum ein gelbes Gilet überzuziehen.

Bezeichnenderweise hat weder die Zahl der bisher mehr als 400 Verletzten und der drei Todesopfer bei den Straßenblockaden noch die Gewalt an zwei Samstagen auf den Champs-?lysées zu einem Rückgang der Unterstützung geführt, ganz im Gegenteil: Haben sich zu Beginn drei Viertel für die Bewegung der Gelbwesten ausgesprochen, sind es nun laut Umfragen 84 Prozent.

Macron hat sich jedenfalls schwer geirrt, als er anfänglich dachte, er könne dieses „Gejammer“ der Habenichtse in der Provinz einfach aussitzen wie einen gewerkschaftlichen Bahnstreik. Er hat damit die jetzige Eskalation mutwillig in Kauf genommen und sich selbst und seine Machtposition ins Spiel gebracht. Macron hat bei seiner Wahl davon profitiert, dass die traditionellen Parteien jeden Kredit verloren haben, er hat selbst mit seiner personalisierten Machtausübung dazu beigetragen, dass die repräsentativen Organisationen und Institutionen weiter an Einfluss eingebüßt haben. Macron, so heißt es, liebt die Politik „mano a mano“, die verbale Konfrontation mit Kritikern. Jetzt steht er aber seinem Volk gegenüber, den „widerspenstigen Galliern“, wie er unlängst spottete. Diese werden, wie man wissen muss, nicht nur streitsüchtig, sondern schnell radikal und gewaltsam.

Macrons rechthaberische Haltung hat den Konflikt unversehens in eine vorrevolutionäre Krise verwandelt. In den Reihen der Demonstranten, aber auch unter den über das Chaos in Paris entsetzten Bourgeois ist vom Sturm der Bastille 1789 oder vom Mai '68 die Rede.

Radikal wie die Sansculotten

„Libération“-Chefredakteur Laurent Joffrin wagt den Vergleich zwischen den Gelbwesten und den Sansculotten der großen Revolution und zwischen Macron und Marie-Antoinette. Wie soll das enden? Mit einer wirklichen Revolution und der symbolischen Guillotine einer Kapitulation oder eines Rücktritts des Staatsoberhaupts? Grund zu langer Schadenfreude hätten dabei die wenigsten.

Die Opposition drängt die Staatsführung zu echten Zugeständnissen in Form einer Pause bei den geplanten Abgabenerhöhungen oder, was für Macron viel riskanter wäre, einer Volksabstimmung darüber. Wie immer, wenn das französische Volk von einem revolutionären Fieber gepackt wird, wird auf der Straße der Kopf des Königs – in diesem Fall Macrons Rücktritt – verlangt.

AUF EINEN BLICK

Die Proteste der Gelbwesten entzündeten sich Mitte November an den hohen Treibstoffpreisen und der Ökosteuer für Diesel, die am 1. Jänner in Kraft treten soll. Mittlerweile fordert die Bewegung eine Senkung „aller Steuern“, die Anhebung der Mindestlöhne und Pensionen sowie eine „Bürgerversammlung“, um über Maßnahmen gegen Kaufkraftverluste zu reden. Am vergangenen Samstag nahmen landesweit 136.000 Menschen an Demonstrationen teil. In Paris kam es dabei zu schweren Ausschreitungen, bei denen rund 260 Menschen verletzt wurden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2018)

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