Die zahnlose Gefährderliste? Frankreich und die "Akte S"

Seit knapp fünf Jahrzehnten führt Frankreich bereits das umfangreiche Verzeichnis, das gesuchte oder verdächtige Personen auflistet und mit FPR abgekürzt wird.
Seit knapp fünf Jahrzehnten führt Frankreich bereits das umfangreiche Verzeichnis, das gesuchte oder verdächtige Personen auflistet und mit FPR abgekürzt wird.(c) APA/AFP/SEBASTIEN BOZON
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Trotz der umfangreichen Erfassung von mutmaßlichen Staatsgefährdern konnte Paris etliche Attentate nicht verhindern.

Paris/Wien. Ayoub El K. war auf der Liste. Vor drei Jahren eröffnete er in einem Schnellzug zwischen Belgien und Frankreich das Feuer, ehe er von anderen Passagieren überwältigt werden konnte. Und Cherif C. stand auf der Liste. Der Verdächtige und Flüchtige soll am Dienstag in der Innenstadt von Straßburg Schüsse abgefeuert und mindestens zwei Menschen getötet haben. Immer wieder sind es islamistische Attentäter, deren Namen auf der behördlichen „Sicherheitsakte S“ auftauchen. Und immer wieder stellen sich die Franzosen nach den Angriffen die Frage: Warum konnte man die Terrorakte trotz Liste nicht verhindern?

Nach dem Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt fahndet die französische Polizei nun öffentlich nach dem Verdächtigen Cherif C.
Nach dem Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt fahndet die französische Polizei nun öffentlich nach dem Verdächtigen Cherif C.APA/AFP/HANDOUT

Seit knapp fünf Jahrzehnten führt Frankreich bereits das umfangreiche Verzeichnis, das gesuchte oder verdächtige Personen auflistet und mit FPR abgekürzt wird. Es sind verschiedene Kategorien: flüchtige Jugendliche, Entflohene aus dem Gefängnis, Mitglieder von kriminellen Vereinigungen, Umweltaktivisten oder jene, die Frankreich aus einer Reihe von Gründen nicht betreten dürfen. In die Kategorie S fallen demnach Personen, die eine Gefahr für die staatliche Sicherheit darstellen: Das können Islamisten sein, aber auch Hooligans oder andere Gefährder. In französischen Medien kursiert seit wenigen Jahren die Zahl 20.000 – so viele Namen beinhaltet offenbar die Liste „Fiche S“, wobei die Hälfte davon dem radikalislamischen Milieu zuzuordnen sei.

„Fiche S“ dient den Behörden als eine Art Warnsystem. Es heißt nicht, dass die Betroffenen automatisch und systematisch überwacht werden; vielmehr sind die Personen grundsätzlich einmal zugeordnet. Wenn sie beispielsweise in Polizei- oder Grenzkontrollen geraten, sollen die Beamten wissen, mit wem sie es zu tun haben – und genauer kontrollieren. Denn die Personen auf der „Liste S“ stehen zwar im Verdacht, die Staatssicherheit zu gefährden, aber sie haben sich nicht unbedingt strafbar gemacht. Auf der „Fiche S“ finden sich – neben Straftätern – auch die Namen derer, die lediglich Kontakt mit einem bekannten Terroristen oder sich auf radikalen Webseiten aufgehalten haben. Auch innerhalb der Kategorie S unterscheiden die Behörden nach Gefährlichkeit. So fasst S14 die Namen jener zusammen, die aus den Kriegsgebieten in Syrien und im Irak zurückgekehrt sind.

Zugriff der Schengen-Staaten

Für die Kritiker geht die Gefährderliste nicht weit genug, doch der Staat argumentiert damit, dass nur aufgrund eines Verdachtes Personen nicht inhaftiert werden können. Darüber hinaus können Namen aus der „Fiche“ wieder gelöscht werden, auch das ist den Kritikern ein Dorn im Auge. Jedenfalls teilen die französischen Behörden ihre Datei mit den Schengen-Staaten, nicht zuletzt deswegen, weil sich die „Fiche S“-Personen frei bewegen können. Alle zwei Jahre wird die Liste aktualisiert.

Der 29-jährige Cherif C. kam nach einer Haftstrafe zwischen 2013 und 2015 auf die S-Liste, weil er als potenzieller Radikaler galt – im Gefängnis soll C. radikalisiert worden und anschließend mit einem Bekehrungseifer aufgefallen sein. C. war Medienberichten zufolge sogar auf der Überwachungsliste der Behörden.

C. ist zwar französischer Staatsbürger, aber für Paris ist die Frage nach der Staatsangehörigkeit nicht ausschlaggebend, ob jemand in die „Fiche S“-Datei kommt. Wie im Fall C. auch, veranlasst meist der Inlandsgeheimdienst die Aufnahme in die Datei. Die Betroffenen selbst erhalten freilich keine Benachrichtigung. (duö)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2018)

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