Nach Jahren der Krise ist das Leben in Venezuela zum Überlebenskampf geworden. Hunger, Angst und Entbehrung prägen den Alltag vieler Menschen. Es könnte noch schlimmer kommen. Ein Lokalaugenschein.
Es geht alles sehr schnell: eine silbergraue Geländelimousine fährt am Eingang des Colegio de Ingenieros vor, die linke Hintertür geht auf und Juan Guaidó steigt aus dem Wagen. Der selbsternannte Interimspräsident Venezuelas lacht in die Menschentraube aus Anhängern, Reportern, Kameramännern und Fotografen. Die Mittagssonne brennt. Es ist ruhig in Santa Rosa. Nur eine Autoalarmanlage stört. Keine Polizei weit und breit. „Bienvenido Presidente!“ Kameras klicken. Jubelrufe. Eine grauhaarige Dame mit Kunstblumen im Haar umarmt Guaidó und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Diese Volksnähe ist selbst für Südamerikaner außergewöhnlich.
Der Oppositionspolitiker schüttelt Hände, winkt, formt seine Hand zum Victory-Zeichen und verschwindet dann im Gedränge. Seine Anhänger, darunter Studenten, Anwälte und Pensionisten, sind alle in der Farbe Weiß gekleidet. Das Symbol der Hoffnung. Mit rot-gelb-blauen Flaggen dekoriert feiern sie ihren charismatischen Anführer. Sie demonstrieren für die Rückkehr der Demokratie, die die Alten in ihrer Jugend erlebten. Und sie verteufeln Präsident Nicolás Maduro.
Hunger. Die wüsten Schmähungen gegen den verhassten Machthaber und die Rufe nach Aufbruch sind zehn U-Bahn-Stationen weiter in Petare längst verhallt. Politik ist in einem der schlimmsten Armenviertel des Kontinents keine Priorität. Hier bestimmen Hunger, Gewalt und Seuchen das Leben. Die Versorgungskrise des einst reichen Ölstaats schlägt in den Barrios, wie die Viertel genannt werden, besonders durch. Überall sieht man ausgemergelte Gesichter, struppige Haare, Hungerbäuche. 15 Prozent der Venezolaner sind laut Caritas unterernährt.