Präsident Erdoğan lässt im Kommunalwahlkampf Aufnahmen des Attentäters von Neuseeland einspielen und wirft Westen einen „Kreuzzug“ vor.
Istanbul. Facebook und andere soziale Medien mögen das Gewaltvideo des Attentäters von Neuseeland gelöscht haben, aber nun tauchen die Aufnahmen des Todesschützen Brenton Tarrant im türkischen Kommunalwahlkampf auf. Präsident Recep Tayyip Erdoğan ließ Teile von Brentons Aufnahmen jetzt in gepixelter Form bei Wahlkampfveranstaltungen abspielen.
Der 64-jährige Staatschef will damit seine Wähler motivieren und die Opposition in die Nähe von Islam-Feinden rücken. Auch rhetorisch rüstet Erdoğan angesichts schwacher Umfrageresultate auf und beschwört eine Konfrontation zwischen dem christlichen Westen und der islamischen Welt: Er warf dem Westen einen neuen „Kreuzzug“ gegen die Türkei vor.
„Christlicher Terrorismus“
Erdoğan wirft dem Westen bereits seit Langem vor, islamistisch motivierte Terroranschläge als Vorwand für Kritik am Islam insgesamt auszunutzen, bei Angriffen auf Muslime aber auf ähnliche Schuldzuweisungen zu verzichten. Nach dem Tod von 50 Menschen bei Tarrants Anschlag auf Moscheen im neuseeländischen Christchurch spreche niemand von einem „christlichen Terroristen“, beklagte Erdoğan am Wochenende.
Der Australier Tarrant hat vor drei Jahren auch die Türkei besucht und laut türkischen Medienberichten in seinem Manifest eine Rückeroberung von Istanbul durch die Christen angekündigt; das damals christliche Konstantinopel war 1453 von den muslimischen Osmanen erobert worden. Tarrant hat in dem Text auch zur Ermordung Erdoğans aufgerufen. Warum Tarrant die Türkei besuchte und welche Kontakte er dabei knüpfte, werde derzeit von der türkischen Polizei untersucht.
Bei mehreren Wahlkundgebungen Erdoğans am Wochenende wurden Ausschnitte aus Tarrants Tatvideo aus Christchurch auf Großleinwänden gezeigt. Die Aufnahmen dienten dem Präsidenten unter anderem zu Angriffen auf den türkischen Oppositionschef Kemal Kilicdaroğlu, dem Äußerungen vorgehalten wurden, wie westliche Politiker über islamistischen Terrorismus gesprochen zu haben. In den Umfragen vor den Kommunalwahlen am 31. März zeichnen sich Stimmenverluste für Erdoğans Regierungspartei AKP ab, die in einem Bündnis mit Bahcelis Rechtspartei MHP antritt. Laut den Befragungen muss die AKP unter anderem mit dem Verlust des Bürgermeisterpostens in der Hauptstadt, Ankara, rechnen.
Ein wichtiger Grund für die Schwäche der AKP ist die schlechte Wirtschaftslage: Die Türkei steckt in einer Rezession, und die Arbeitslosigkeit ist auf den höchsten Stand seit zehn Jahren gestiegen. Eine Niederlage bei der Wahl wäre ein schwerer Schlag für die seit 2002 regierende AKP und ihren Präsidenten.
„Hallo, Kreuzritter, wir erwarten euch“
Für Erdoğan kommt es deshalb vor allem darauf an, die islamisch-konservative Kernanhängerschaft seiner AKP vor dem Wahlsieg zu motivieren. Zu diesen Bemühungen gehören seine rhetorischen Attacken auf den Westen und die Anspielungen auf die mittelalterlichen Kreuzzüge, die in der Türkei als Ausdruck einer aggressiven Haltung westlicher Staaten gelten. „Wir wollen keinen neuen Kampf zwischen Kreuz und Halbmond“, sagte Erdoğan an den Westen gerichtet. „Aber notfalls sind wir bereit, wenn ihr unbedingt wollt.“ Bahceli wurde noch deutlicher. Er verwies darauf, dass der Christchurch-Attentäter Tarrant auch die Türkei bedroht habe. „Hallo, ihr Kreuzritter, wir erwarten euch, kommt her, dann werden wir euch in eurem eigenen Blut ersäufen“, sagte Bahceli.
Verschärfte Rhetorik
Schon vor dem Terroranschlag von Christchurch hatte Erdoğan seine Rhetorik im Wahlkampf deutlich verschärft. Führende Politiker der prokurdischen Partei HDP nennt er „Terroristen“. Den Teilnehmerinnen einer Frauendemonstration in Istanbul warf er islamfeindliches Verhalten vor, weil sie während des Gebetsrufs aus einer nahen Moschee gepfiffen hätten. Die Wähler sollten nicht Kräfte unterstützen, „die unseren Gebetsruf und unserer Fahne nicht respektieren“, sagte er vorige Woche.
Präsident droht Rivalin mit Haft
Erdoğan bezeichnet die anstehende Kommunalwahl als „Schicksalswahl“, bei der AKP und MHP einer unheiligen Allianz aus mehreren Oppositionsparteien gegenüberstünden. Der Präsident wirft der linksnationalen Oppositionspartei CHP und der konservativen IYI Parti vor, sich mit der HDP und damit indirekt mit der kurdischen Terrororganisation PKK verbündet zu haben.
Der IYI-Parti-Chefin, Meral Akşener, drohte er offen eine Gefängnisstrafe an. Der frühere HDP-Chef Selahattin Demirtaş sitzt bereits seit mehr als zwei Jahren hinter Gittern. Akşener könne sich bald dazugesellen, sagte Erdoğan kürzlich.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2019)