Türkei

"Edirne mag Tayyip nicht"

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Am heutigen Sonntag finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Die AKP könnte die Großstädte Istanbul und Ankara verlieren. Es ist ein Stresstest für die Regierungspartei.

Recep Gürkan bewegt sich gewissermaßen auf sicherem Gebiet. Er trägt einen roten Pulli, die Farbe seiner Partei, sowie einen charakteristischen Schnauzer, und bewegt sich, begleitet von einem Tross, Richtung Eingang des Gymnasiums. Allzu weit kommt er nicht. Hier wollen ihm zwei ältere Damen die Hand geben, dort fragen ihn zwei Erstwähler um ein Selfie. Im Wahlkampf seien schmutzige Sachen passiert, sagt er den wartenden Journalisten noch. Aber Hässlichkeiten dieser Art würden nicht in seine Stadt, Edirne, passen. Er sei ganz entschlossen, sich weiter für alle Bürger einzusetzen. Dann wendet sich Gürkan ab Richtung Gymnasium, wo er seine Stimme abgeben wird, aber bis er zur Urne kommt, wird noch eine Weile vergehen: Fotos, Handshakes, Geplauder.

Die westliche Provinz Edirne mit der gleichnamigen Hauptstadt ist, wie die umliegenden Provinzen auch, stabile Zone der sozialdemokratischen CHP. Bei der Kommunalwahl am Sonntag wird hier keine großartige Änderung erwartet: Die AKP als zweitstärkste Kraft kann allenfalls lokale Posten einheimsen, mehr geht sich für die konservative Partei des Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan, wohl nicht aus. Trotz der “Hässlichkeiten”. Damit meint Gürkan die Raki-Debatte, die ihn während des Wahlkampfes zu einer nationalen Causa machte: Videos und Bilder zeigen, wie der Bürgermeister in der Nacht des gescheiterten Putschversuchs 2016 Raki trinkt und angeblich auf die Putschisten anstoßt. Ein Verein, der die Interessen der Toten von jener Nacht vertritt, hat angekündigt, ihn anzuzeigen. Gürkan sagt, das Video sei aus dem Zusammenhang gerissen.

"Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei"

Vor dem Wahllokal in der Schule nimmt ihn ein Paar, das nach der Stimmabgabe noch eine Zigarette raucht, in Schutz. Lange habe man in jener Nacht nicht gewusst: Ist das nun ein Putsch oder nicht? Das Material sei bewusst gegen Gürkan verwendet worden, sagt die Frau mit der lockeren Jacke und den streng zusammengebundenen Haaren. In jener Sommernacht während des Putschversuchs seien doch alle draußen gewesen, und ja, hier trinke man nun mal Raki. “Wir sind europäisch. Wir sind Kemalisten. Ich mag das nicht, wenn jemand sich in meine Kleiderwahl einmischt. Es hat niemanden zu interessieren, wenn ich einen Minirock trage.” Ihr Mann sagt: “Edirne mag Tayyip nicht.”

So sicher der europäische Westen des Landes für dei CHP sein mag, so ungewiss zeigt sich der Ausgang in den Großstädten Istanbul und Ankara. In beiden Städten war die AKP bislang relativ stabil, doch das könnte sich ändern. “Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei” lautet eine politische Parole im Land, und für den Werdegang Erdogans gilt der Satz mehr als für jeden anderen Politiker, hat er doch hier seinen Aufstieg begonnen. Doch bei dem Referendum zur Einführung der Präsidialrepublik vor zwei Jahren hat ihn seine Geburtsstadt schwer enttäuscht: Die Mehrheit war gegen die Pläne der AKP. So schickte Erdogan den ehemaligen Regierungschef und seinen loyalen Parteifreund Binali Yildirim für Istanbul ins Rennen; einem Unbekannten sollte dieses heikle Terrain nicht überlassen werden. Sollten die wichtigen Großstädte tatsächlich in die Hände der Opposition kommen, rechnen Beobachter gar mit Neuwahlen. So hat die AKP bereits nach der Parlamentswahl 2015 reagiert, als sie schwere Verluste erlitt und alle Koalitionsgespräche platzten bzw. die AKP sie platzen ließ.

Insgesamt scheint die Ausgangslage für die Kommunalwahl jedoch recht klar: Im anatolischen Herzland kann Erdogan weiterhin auf seine Stammwählerschaft zählen. Kampfgebiet sind die Großstädte und kaum abzusehen wird die Lage im Südosten des Landes sein. Dort ist die prokurdische und von der Regierung schwer gedrosselte Partei HDP der Platzhirsch, zum Leidwesen Erdogans. Nach dem gescheiterten Putsch machte die AKP Tabula Rasa in der Region und ließ etliche Bürgermeister und Provinzgouverneure der HDP absetzen; der allumfassende Vorwurf: Terrornähe zur PKK. Seither werden die Provinzen zwangsverwaltet. Dass mit dieser Maßnahme die AKP nun mehr Stimmen erhalten wird, scheint fraglich. Vielmehr gab Erdogan während des Wahlkampfes bekannt, dass er etwaige HDP-Gewinner nicht anerkennen wird. Er drohte mit weiterer Zwangsverwaltung. Die Stimmung im Südosten war am Sonntag höchst aufgeladen: Medienberichten zufolge kam es in Malatya zu einer Schießerei mit zwei Toten. In Mardin und der wichtigen Großstadt Diyarbakir kam es zu Massenschlägereien; die Kurdenmetropole wird derzeit von AKP-Politiker Cumali Attila zwangsverwaltet. Es wäre eine Überraschung, wenn ihn die Bevölkerung in Diyarbakir in diesem Amt bestätigen würde.

Von Scharmützeln und Gewalttätigkeiten ist in Edirne keine Spur. Die Sonne scheint, das historische Zentrum und die Einkaufsstraße sind am Nachmittag schwer bevölkert, viele Touristen aus Bulgarien verbringen ihre Wochenenden hier. Edirne war zeitweise die Hauptstadt des osmanischen Reiches, lag die Stadt doch am wichtigen Korridor zwischen Ost und West. “Etwas sind wir nicht, und das konservativ”, sagt eine junge Frau im örtlichen Buchladen, wo besonders viele Linke und Romanautoren zu finden sind. “Im Wahlkampf sagt die AKP allen Ernstes: Wer uns keine Stimme gibt, der landet in der Hölle! Solchen Schwachsinn glauben hier zum Glück nur wenige.”

“Die AKP hat hier kaum investiert, weil hier CHP-Land ist”

Recep Gürkans Gegenkandidat heißt Koray Uymaz. Er ist Anwalt und tritt zum ersten Mal an. Vor seiner Stimmabgabe, ebenfalls in einem Gymnasium, wählt Uymaz seine Wörter mit Bedacht: Ja, es sei ein ermüdender Wahlkampf gewesen, aber er könne auf unzählige Begegnungen in Edirne zurückblicken. Weitere freundliche Sätze und ein Loblied auf die Stadt folgt, ehe er zum nächsten Termin eilt. “Die AKP hat hier kaum investiert, weil hier CHP-Land ist”, sagt Ayse, eine Angestellte, vor dem Wahllokal. Ein unfertiger Flughafen, auf die versprochene Schnellbahn warte man noch, nur ein neues staatliches Krankenhaus habe die Stadt bekommen. “Und den steigenden Tourismus haben wir uns selbst zu verdanken.”

Ihrer Investitionspolitik verdankt die AKP viele Stimmen. Vor der Wahl hat sie daher besonders im Südosten wieder auf neue Projekte gesetzt, im anatolischen Herzland sowieso. Aber der Partei kam auch die selbstverschuldete Finanzkrise in die Quere, die Inflation macht der Bevölkerung schwer zu schaffen. Während der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im vergangenen Jahr war die Lage besonders prekär, und dennoch konnte die AKP als Gewinner hervorgehen. Aber von fairen Wahlbedingungen konnte nicht die Rede sein, die meisten Medien sind regierungstreu, Erdogan bekam weit mehr Sendezeit als alle anderen Kandidaten. Das ist bei dieser Wahl nicht anders. Und so gab der Präsident vor wenigen Tagen ein Fernsehinterview in einem recht bizarren Setting: Er und die Moderatoren im Vordergrund, viel weiter hinten sitzen alle seine Bürgermeisterkandidaten symmetrisch aufgereiht – also jene, um die es eigentlich bei dieser Wahl geht.

Schmutzigster Wahlkampf der letzten Jahre

Kommunalwahlen in Türkei

Beim Wahlkampf haben die Parteien wie gewohnt alle Geschütze aufgefahren, manche Zeitungskommentatoren schreiben gar vom schmutzigsten Wahlkampf der letzten Jahre – was die Nervosität im AKP-Lager besonders deutlich zeige. Erdogan hat den Sieg zur Chefsache gemacht, mehrere Auftritte pro Tag waren normal. Relativ neu ist in der jüngeren Türkei der Wahlkampf sogenannter Allianzen: Auf der einen Seite kämpft die “Volksallianz” zwischen der AKP und der rechtsextremen MHP um die politische Vormachtstellung. Auf der anderen Seite steht das kuriose “Bündnis der Nation” zwischen den Sozialdemokraten und der nationalistischen und relativ neuen Partei IYI. Beide Allianzen sparen die HDP aus, doch die linke, prokurdische Partei hatte zuvor angekündigt, an Schlüsselstellen das Bündnis unterstützen zu wollen.Am Sonntag findet in der Türkei die Kommunalwahl statt: Rund 57 Millionen Bürger wählen ihre Bürgermeister und lokale Vertreter. 30 Großstädte, 51 Städte, 922 Kreisstädte und mehr als 18.000 Gemeinden und Dörfer bekommen neue (alte) Vertreter.

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