Notre-Dame und die Neuerfindung des Emmanuel Macron

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Die Achterbahnfahrt des Staatschefs vom jugendlichen Erneuerer zum Buhmann der Nation im Zuge der Gelbwesten-Protesten. Er verordnete dem Land ein großes Palaver und zeigt sich gereift.

Wien/Paris. Der eloquente Staatschef war erst einmal sprachlos. Für Montagabend, zur besten Sendezeit um 20 Uhr, hatte Emmanuel Macron seine TV-Rede an die Nation programmiert – als Schlusspunkt unter die „Grand Débat“, das große Palaver, das er dem Land im Zuge der außer Kontrolle geratenen Gelbwesten-Proteste verordnet hatte.

Kreuz und quer war er durchs Land gereist, hatte wie im Wahlkampf hemdsärmelig und durchgeschwitzt mit Bauern und Arbeitern diskutiert, mit Präfekten und Gemeinderäten. Er hatte Intellektuelle zum Gespräch bis halb zwei Uhr früh in den Elysée-Palast geladen, um die Wut der Bürger und ihre Sorgen zu erspüren und zu konstruktiven Lösungsvorschlägen zu kanalisieren. Und nun wollte er die Ergebnisse präsentieren, eine Sozialreform samt Steuererleichterungen.

Knapp eine Stunde vor der Ansprache erreichte ihn indes die Nachricht vom Feuerinferno in Notre-Dame. Umgehend sagte er die Rede ab und eilte zusammen mit seiner Frau Brigitte und Premier Edouard Philippe vom Präsidentenpalast wie Tausende Pariser an den Schauplatz an der Ile de la Cité, um sich selbst ein Bild von der Zerstörung des Nationaldenkmals zu machen.

Der Schöngeist aus dem Elysée-Palast

Dem 41-Jährigen waren Ernst und Schock ins Gesicht geschrieben. Es wäre nicht Macron, der Schöngeist, hätte er nicht seine Sprache wiedergefunden. „Notre-Dame ist unsere Geschichte, unsere Literatur, ein Teil unserer Psyche, der Platz unserer großen Ereignisse, der Epidemien, Kriege und der Befreiung – das Epizentrum unseres Lebens.“ Besser hätte es ein Victor Hugo nicht formulieren können. Er sprach von einem inneren Beben, von Hoffnung und Wiederaufbau.

Es war der Emmanuel Macron, den Frankreich vor bald zwei Jahren zum Präsidenten gewählt hatte; jener Macron, der sich bei der Rede nach dem Wahltriumph unter Beethoven-Klängen im Louvre an seine Landsleute gewandt hatte. „Ich werde euch immer die Wahrheit sagen“, versprach er.

In den ersten Monaten im Elysée entwarf der neue Präsident Reformen für ein modernes, dynamisches Frankreich und entfaltete Visionen für Europa. Er inszenierte sich als „Jupiter“, als Mischung aus Charles de Gaulle und François Mitterrand. Bald erschien er indes als entrückter, arroganter Monarch. Der Zauber war verflogen.

Während der Gelbwesten-Proteste, die unvermittelt im Herbst ausgebrochen waren, stürzte der Präsident in ein Umfragetief. Der jugendliche Erneuerer war zum Buhmann mutiert. Bejubelt und umschwärmt von den Anhängern seiner Bewegung En Marche, verstand er die Welt nicht mehr. Doch er stellte sich dem Protest, zeigt sich neuerdings hart im Brexit-Chaos und im Handelskonflikt mit Donald Trump. Für die EU-Wahl hat er seine Wähler jedenfalls bereits mobilisiert. Jetzt gibt er den gereiften Krisenmanager, den Tröster der Nation, der mit dem Papst spricht – und mit Gott und der Welt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2019)

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