"Wir sind alle Ukrainer": Selenskij zum Präsidenten angelobt

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Selenskij hielt aufsehenerregende Rede und löste das ukrainische Parlament auf. Mehrere hundert Anhänger versammelten sich vor dem Parlament. Ausländische Staatsgäste wohnten der Inauguration bei.

Er zog ein wie ein Kämpfer in den Ring: Wolodymyr Selenskij betrat die Kiewer Rada zu Fuß, angefeuert von seinen Unterstützern, die sich hinter gelb-blauen Bannern rund um das Parlament versammelt hatten. „Selenskij, Selenskij“, riefen sie. Immer wieder ging er zu seinen Fans, schlug in ihre Hand ein, schoss Selfies mit den Versammelten und strahlte siegessicher über das ganze Gesicht. Es sei das erste Mal, dass ein Präsident in die Rada spazierte, erklärte der Moderator des TV-Senders 1+1, der das Spektakel live übertrug. Selenskij leistete kurz nach 10 Uhr (Ortszeit) den Amtseid. Er erhielt die präsidentiellen Symbole ausgehändigt: eine Kette, einen Stempel und ein Zepter, das er andächtig in der rechten Hand hoch hielt.

„Wir benötigen euer Wissen"

In seiner Rede sagte Selenskij, dass „jeder von uns Präsident ist“. Jeder Bürger sei der Verfassung verpflichtet. „Ein Präsident klaut nicht“, sagt er. „Jeder von uns kann alles für die Entwicklung der Ukraine tun.“ Der europäische Charakter des Landes fange bei jedem einzelnen an. „Jeder von uns stirbt im Donbass, jeder von uns ist ein Vertriebener“ sagte er in einer emotionalen, staatstragenden Rede. „Wir sind alle Ukrainer. Von Uschgorod bis Luhansk, von Tschernihiw bis Simferopol.“ Ukrainer im Ausland rief er zur Rückkehr auf. „Wir benötigen euer Wissen.“

Selenskij löste wie erwartet das Parlament auf. „Sie haben zwei Monate Zeit zum Arbeiten“, sagte er und rief die Abgeordneten auf, in den verbliebenen Wochen mehrere wichtige Gesetze anzunehmen. Die Wahlen könnten Mitte oder Ende Juli stattfinden. Selenskij erklärte, seine bisherige Mission sei es gewesen, die Bürger zum Lachen zu bringen. „Ich werde in den nächsten fünf Jahren alles tun, damit die Ukrainer zumindest nicht weinen müssen.“

Neuwahlen innerhalb von zwei Monaten

Der Präsident kündigte an, die Immunität der Abgeordneten aufzuheben sowie gegen Bereicherung im Amt vorzugehen. Zudem rief er das Parlament auf, den Geheimdienstchef und den Generalstaatsanwalt zu entlassen. Einige ranghohe Politiker hatten bereits in den vergangenen Tagen ihren Rücktritt erklärt, darunter Außenminister Pawel Klimkin. Verteidigungsminister Stepan Poltorak trat kurz nach der Rede zurück. Sie gehören zur Mannschaft des abgewählten Präsidenten Petro Poroschenko.

Bereits am Freitag hatte die Regierungspartei Volksfront des früheren Regierungschefs Arsenij Jazenjuk angekündigt, aus der Koalition auszutreten. Selenskij legte am Montag der gesamten Regierung den Rücktritt nahe. „Sie sollten an die Zukunft des Landes denken, nicht an die nächsten Wahlen.“ In der Regierungsbank sorgte die Rede zeitweise für Kopfschütteln; Premier Wolodymyr Hroisman zeigte eine eisige Miene.

Die Ansprache war aufsehenerregend: Immer wieder wechselte Selenskij zwischen den Sprachen Russisch und Ukrainisch. Auf Russisch forderte er die Freilassung aller ukrainischen Gefangenen durch Russland. „Ich bin sicher, man hört uns zu.“ Er appellierte an die Bevölkerung in den Separatistengebieten, sich wieder dem Vaterland anzunähern. Und er schwor, keine der verlorenen Territorien aufgeben zu wollen. Selenskij betonte das Einigende, nicht das Trennende. Das Parlament zollte dem frisch gekürten Präsidenten durchaus Applaus - ein symbolischer Triumph für Selenskij nach den letzten Wochen des Tauziehens über das Datum der Angelobung.

Poroschenko mahnt zu Kontinuität

In der Rada hatte die gesamte Staatsspitze Platz genommen, darunter der bisherige Präsident Petro Poroschenko. Die georgische, die litauische und die estnische Präsidentin sowie der ungarische Staatschef waren als Gäste gekommen. Auch der US-Beauftragte für die Ukraine, Kurt Volker, war angereist. Religiöse Würdenträger waren ebenfalls anwesend.

Poroschenko hatte zuvor in einer Ansprache seinen Nachfolger zur außenpolitischen Kontinuität gemahnt. „Gestern waren wir noch harte Konkurrenten“, sagte er und wünschte seinem Nachfolger viel Glück.

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