Ungarns Amt für Justiz „völlig unkontrolliert“

Die Europäische Richtervereinigung schlägt wegen der Situation der Gerichtsbarkeit in Ungarn Alarm: Der aus Richtern gebildete Nationale Rat der Gerichtsbarkeit sei kaltgestellt worden, warnen die Richter.

Wien. Im Schatten der problematischen Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Polen leidet auch Ungarns Justiz unter einem verstärkten Zugriff der Politik auf ihre Unabhängigkeit. Die Präsidentin des Nationalen Amtes für die Gerichtsbarkeit, Tünde Handó, agiere „völlig unkontrolliert“, warnt die Europäische Richtervereinigung (EAJ). Der Nationale Rat der Gerichtsbarkeit, der aus gewählten Richtern gebildet wird und Handós Amt kontrollieren sollte, sei ausgeschaltet worden.

Gerhard Reissner, Vorsteher des Bezirksgerichts Floridsdorf und ehemaliger Präsident der EAJ, war mit einem Schweizer Kollegen auf Fact Finding Mission in Ungarn. Bei einer heute, Montag, im Justizpalast stattfindenden Veranstaltung wird Reissner über die Situation in Ungarn berichten.

Die Ausgangslage: Viktor Orbán habe nach seiner (zweiten) Wahl zum Ministerpräsidenten 2010 hastig die Verfassung ändern lassen und damit begonnen, die Unabhängigkeit der Justiz zu beschränken. Um unliebsame Richter loszuwerden, wurden das Pensionsalter gesenkt und Zwangspensionierungen vorgenommen – Maßnahmen, die in der Folge sowohl vom ungarischen Verfassungsgericht als auch vom EU-Gerichtshof in Luxemburg für unzulässig erklärt wurden. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, der den Zugriff auf die Justiz ebenfalls kritisiert hatte, wurde abgesetzt, was Ungarn wiederum eine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingetragen hat.

Ressourcen und Ernennungen gesteuert

2012 wurde zur zentralen Leitung und Verwaltung der Gerichte das Nationale Amt für die Gerichtsbarkeit gegründet, dessen Präsidentin Tünde Handó für sieben Jahr vom Parlament gewählt wurde. Das Amt steuert nicht nur die Ressourcen der Gerichte, sondern ernennt auch Richter und Gerichtspräsidenten. Dabei sollte es laut Verfassung von einem Nationalen Rat der Gerichtsbarkeit kontrolliert werden, mit Richtern als Mitgliedern, die von der Richterschaft gewählt wurden. Will Handó bei Ernennungen nicht den Vorschlägen des zuständigen Gremiums des Gerichts folgen, so benötigt sie dafür die Zustimmung des Rates.

Reissner zufolge häuften sich Fälle, in denen Handó sich über Vorschläge hinwegsetzte und eigenmächtig interimistisch frei gewählte Personen ernannte. Als der Nationale Rat im Jänner 2018 seine Kontrollfunktion intensivierte und Handó einen kritischen Bericht übergab, traten etliche Mitglieder des Rates zurück. Die EAJ-Delegation ortet Anzeichen, dass dies über Einfluss Handós geschah. Diese stoppte die Zusammenarbeit mit dem Rat und dürfte auch dazu beigetragen haben, dass Wahlen zur Ergänzung dieses Gremiums scheiterten. Proteste der Ungarischen Richtervereinigung wurden mit der Kündigung von deren Räumlichkeiten und der Kürzung von Förderungen quittiert.

Ein im Mai ans Parlament gerichteter Antrag des Rats der Gerichtsbarkeit, Handó abzusetzen, scheiterte; auch der Ruf, die Macht von Amt und Rat neu auszutarieren, blieb ungehört. Die heutige Veranstaltung im Justizpalast ist die letzte einer von Friedrich Forsthuber, Präsident des Straflandesgerichts Wien, organisierten Rechtsstaat-Ausstellung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2019)

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