Mariela Castro: "Die Revolution hat Fehler gemacht"

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Mariela Castro, Tochter von Kubas Staatschef Raúl Castro, kämpft für die Rechte der Homosexuellen, kauft ihrem Vater im Ausland Seife und Zahnpasta und wünscht sich die Abschaffung der Reisebeschränkungen.

„Die Presse“: Frau Castro, warum setzen Sie sich auf Kuba für die Rechte von Homosexuellen ein?

Mariela Castro: Eigentlich hat diese Arbeit schon meine Mutter Vilma Espín in den 1960er-Jahren begonnen. Damals ging es vor allem um Frauenrechte, und es waren die Frauen selbst, die sexuelle Aufklärung für ihre Töchter und Söhne verlangten. So rief die Föderation kubanischer Frauen 1972 ein entsprechendes Programm ins Leben, in dessen Rahmen sich Mitarbeiter auch um die Diskriminierungen zu kümmern begannen, unter denen Männer leiden. Später entstand das Nationale Zentrum für sexuelle Aufklärung, das ich heute leite.

Welches sind die wichtigsten Ziele Ihrer Organisation?

Castro: Die Bevölkerung über Probleme im Zusammenhang mit der Sexualität aufzuklären und Vorurteile zu bekämpfen, die zu einem diskriminierenden Verhalten gegenüber Homo- und Transsexuellen führen könnten. Wir organisieren Vorträge, lancieren öffentliche Kampagnen und führen jeden Mai die kubanische Woche gegen die Homophobie durch. Außerdem ist im Parlament schon seit Längerem ein Gesetzesvorschlag deponiert, um die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern zu erlauben.

Wenn Fidel oder Raúl Castro auf Kuba eine Änderung wollen, dann wird doch nicht lange herumdiskutiert, sondern ruck, zuck gehandelt.

Castro: Das glauben Sie. Fidel wollte schon vor seiner Erkrankung viele Änderungen; sie scheiterten, weil andere dagegen waren. Und mein Vater hat eine ganze Liste von Reformen, von denen er einige aus demselben Grund bisher nicht umsetzen konnte.

In den Anfängen der kubanischen Revolution wurden Schwule in Arbeitslager gesteckt. Kürzlich hat sich Fidel Castro dafür entschuldigt.

Castro: Ja, und ich finde es falsch, dass er persönlich die Schuld für die damaligen Fehler auf sich genommen hat. Die ganze Gesellschaft, die Psychiatrie, die Justiz waren damals schwulenfeindlich, nicht nur auf Kuba, sondern auf der ganzen Welt. Fidel konnte sich in den turbulenten Zeiten nach dem Triumph der Revolution nicht um alles kümmern.

Haben Sie häufig Kontakt zu ihm?

Castro: Nein, ich habe ihn seit seiner Erkrankung nicht mehr gesehen. Als er im Spital lag, durften ihn nur Personen besuchen, die mit seiner Arbeit zu tun haben. Genau wie alle anderen Kubaner rätselte ich, wie es ihm gehe. Mein Vater war zu diskret, um darüber zu sprechen. Er hat nur gesagt, dass er mir irgendwann einmal erzählen wird, wie sehr er während Fidels Krankheit gelitten hat.

Ihr Engagement für die Rechte von Homosexuellen ist ja ehrenwert, aber gibt es auf Kuba nicht noch wichtigere Rechte, für die man sich einsetzen könnte? Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Demokratie?

Castro: Über diese Dinge verbreiten die internationalen Medien viele Klischees, die nichts mit dem wahren Kuba zu tun haben. Auf Kuba gibt es Meinungsfreiheit! Wir können alles sagen, was wir denken. Wir können für oder gegen die Regierung sein, niemand kommt deswegen ins Gefängnis.

Und was ist mit den Gewissensgefangenen, die Kuba vor Kurzem freiließ, nachdem sie jahrelang zu Unrecht im Gefängnis gesessen waren? Oder der regierungskritischen Bloggerin Yoani Sánchez, der jede Reise ins Ausland verweigert wird?

Castro: Yoani Sánchez ist eine ganz andere Geschichte. Laut kubanischem Strafrecht ist sie ein Söldnerin. Sie erhält genau wie die anderen sogenannten Dissidenten Geld aus den USA, um Lügen zu verbreiten und die Regierung anzuschwärzen. Die Straftat des Landesverrates hat auch jede andere westliche Demokratie in ihrem Strafgesetzbuch. Und die Presse wird weltweit von ökonomischen Interessengruppen kontrolliert. Ganz zu schweigen von Journalisten, die in lateinamerikanischen Ländern ermordet werden oder verschwinden. Ist Yoani Sánchez verschwunden? Nein, sie verbreitet weiter ihre Lügen.

Václav Havel, Lech Wałęsa und Andrej Sacharow galten im Ostblock ebenfalls als Verräter. Die Geschichte hat sie freigesprochen.

Castro: Kuba mit den ehemaligen Ostblockstaaten zu vergleichen ist völlig falsch. Als ich 1984 mit meinem Vater in die Sowjetunion reiste, sagte ich zu ihm: „Ist das der Sozialismus, den du Kuba wünschst? Ich nicht!“ Und wissen Sie, was er antwortete? „Ich auch nicht.“ Aber warum soll Kuba seine Gesetze ändern, nur weil es das Ausland verlangt? Wir haben es satt, dass man uns ständig Vorschriften macht. Wir haben das Recht, selbst über unsere Zukunft zu bestimmen. Kuba ist keine Diktatur, das Volk kann einen Abgeordneten wählen oder auch nicht, und es wird im ganzen Land über die Vorzüge und Mängel des Systems diskutiert. Aber wir verteidigen den Sozialismus, weil es vom Volk so gewünscht wird.

In der DDR standen angeblich auch 99 Prozent der Bürger auf der Seite der SED. Auf Kuba hat einer ja nicht einmal das Recht auf einen eigenen Internetanschluss.

Castro: Weil die Amerikaner nicht erlauben, dass wir uns an ihr Glasfaserkabel anschließen. Wir haben nun ein Abkommen mit Venezuela geschlossen, um ein eigenes Kabel zu verlegen. Danach wird auf Kuba selbstverständlich jeder seinen eigenen Anschluss haben.

Könnte es sein, dass Sie als Tochter von Raúl Castro die Realität des kubanischen Sozialismus anders erleben als normale Bürger? Mussten Sie jemals mit dem Rationierungsbüchlein in einer Schlange stehen, um ein bisschen Reis und Bohnen ausgehändigt zu bekommen?

Castro: Aber natürlich! Das muss ich immer noch, und mein Vater übrigens auch. Und wenn ich ins Ausland gereist bin, habe ich Raúl immer Seife, Zahnpasta und Shampoo gekauft, weil ihm diese Dinge fehlten. Nie hat er mir irgendwelche Privilegien zugeschanzt, und ich bin ihm dafür dankbar. Nur so konnte ich wissen, wie sich die kubanische Realität anfühlt.

Diese Realität ist ja nun ein ziemliches Desaster.

Castro: An unseren wirtschaftlichen Problemen sind zu einem großen Teil die Amerikaner mit ihrem kriminellen Handelsembargo schuld. Aber es stimmt, dass die Revolution Fehler gemacht hat. Ich bin genau wie mein Vater dafür, über diese Fehler offen zu diskutieren und weitere Reformen zu beschließen, um den kubanischen Sozialismus zu verbessern.

Wo sehen Sie am meisten Handlungsbedarf? Was muss sich auf Kuba ändern?

Castro: Ich wünsche mir mehr Raum für einen kritischen, aber fairen Journalismus. Reisebeschränkungen gehören vollständig abgeschafft. Die ganze Landwirtschaftspolitik der Revolution war derart einseitig, dass wir heute 80 Prozent der Lebensmittel importieren müssen. Aber ich bin überzeugt, dass wir diese Fehler korrigieren und die Errungenschaften der Revolution retten können.

Halten Sie es für ausgeschlossen, dass die Revolution scheitern und der Sozialismus auf Kuba verschwinden könnte?

Castro: Völlig auszuschließen ist das sicher nicht. In diesem Falle werde ich mein Alter damit verbringen, den Untergang der kubanischen Revolution zu bedauern.

AUF EINEN BLICK

Mariela Castro Espín (* 27. 7. 1962 in Havanna) ist die Tochter des kubanischen Staatschefs Raúl Castro. Sie ist studierte Pädagogin und leitet das Nationale Zentrum für sexuelle Aufklärung.

Die Rebellin. Mariela setzt sich für die Rechte von Homosexuellen ein, engagiert sich im Kampf gegen Aids. In ihrer Familie gelte die 48-Jährige, die mit einem Italiener verheiratet ist, als Rebellin, berichten Insider. Das Gespräch fand in Bellinzona im Tessin statt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2010)

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