"Polizei ist brutaler als zu Zeiten Mubaraks"

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Ein Jahr nach dem Sturz des ägyptischen Diktators Mubaraks hat die Reform des berüchtigten Sicherheitsapparates noch nicht einmal angefangen. Man habe absichtlich ein Sicherheitsvakuum geschaffen.

Kairo. Fast genau ein Jahr nach dem Sturz von Diktator Hosni Mubarak: Wütende Demonstranten und Fußballfans belagern das Innenministerium in Kairo. Sie machen den Sicherheitsapparat für den Tod von über 70 Fußballfans im Stadium von Port Said verantwortlich. In anschließenden mehrtägigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten sterben 15 Menschen, die meisten nach dem Gebrauch von Schrotmunition. Tausende werden verletzt, viele erblinden dadurch. Der Innenminister Muhammad Ibrahim streitet ab, dass seine Polizei Schrotgewehre einsetzt.

Wenige Stunden später kursiert im Internet das Bild der 26-jährigen Aktivistin Salma Said: ihre Beine und ihr Gesicht gespickt mit Schrotteilen. Hundert an der Zahl steckten in ihrem Körper, erklärte ihre Mutter Mona Mina, die im Ärzteverband im Vorstand sitzt. Ihre Tochter habe Glück gehabt, eine Schrotkugel sei nur vier Millimeter von ihrem Auge entfernt eingedrungen. Der Innenminister spricht daraufhin von einer unbekannten „dritten Hand“, die bei den Protesten geschossen habe. Erneut stellen Aktivisten Videos ins Netz, die Polizisten zeigen, die in den Straßen rund um das Innenministerium wild mit Schrotgewehren um sich schießen.

Zahl der Toten bei Demos steigt

„Die Polizei ist noch brutaler als zu Zeiten Mubaraks geworden“, lautet Karim Midhat Ennarahs niederschmetternde Bilanz. Der junge Mann weiß, wovon er spricht. Er beschäftigt sich in einer Menschenrechtsgruppe damit, wie der Sicherheitsapparat reformiert werden könnte und ist einer der Autoren der „Initiative zum Neuaufbau der Polizei“, einem 30-seitigen Dokument, in dem eine mögliche Reform des Sicherheitsapparates beschrieben wird. „Die Zahl der Toten bei Protesten steigt ständig. Die Polizei ist unsicherer und gewalttätiger als zuvor“, sagt er.

Ennarah hat sich zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen und einer Gruppe von Ex-Polizeioffizieren mit dem Namen „Wir sind Polizeioffiziere, aber ehrenhaft“ an die Arbeit gemacht und einen möglichen Reformvorschlag des Polizeiapparates nach drei Jahrzehnten Diktatur ausgearbeitet. „Alle reden von der Polizeireform, wir dachten, wir müssen das einmal konkret ausarbeiten“, sagt er. Vorbilder gebe es viele – in Deutschland nach dem Fall der Mauer, in Osteuropa, aber vor allem beim Übergang der Diktaturen Lateinamerikas zu Demokratien, „die uns demografisch und sozial und wirtschaftlich wahrscheinlich am nächsten liegen“.

Kein Wille zur Reform

Im ägyptischen Innenministerium und bei der Militärführung sieht er derzeit allerdings keinen politischen Willen, diese Reform anzugehen. „Sie reden immer nur davon, dass sie ihr Vertrauen zurückgewinnen müssen, ändern wollen sie nichts“, meint er.

„Nichts hat sich im Innenministerium geändert, warum auch? Das Ministerium ist ein praktisches Instrument für die Reste des alten Regimes und der Militärführung, jeden Befehl auszuführen, auch wenn er der Verfassung und den Gesetzen widerspricht“, glaubt Oberst Muhammed Mahfuz, ein Polizeioffizier, der nach 21 Dienstjahren die Praktiken des Apparates offen angeprangert hat und Ende 2009 nach einem Disziplinarverfahren entlassen wurde. Im Jänner hat ein Gericht nun geurteilt, dass er wieder in den Dienst aufgenommen werden muss.

„Leute der alten Denkschule“

Mahfuz nimmt sich im Gespräch mit der „Presse“ kein Blatt vor den Mund. „Solange das Ministerium von Leuten der alten Denkschule geführt wird, wird es sich als eines der größten Hindernisse für eine demokratische Entwicklung Ägyptens erweisen.“ Man habe absichtlich in den letzten Monaten ein Sicherheitsvakuum geschaffen, damit die Menschen sich den alten Sicherheitsapparat zurückwünschen.

Die unter anderem von Oberst Mahfuz und Ennarah ausgearbeitete Initiative zur Reform des Sicherheitsapparates sieht zunächst eine umfassende Überprüfung aller Offiziere durch eine unabhängige Kommission vor. „Manche werden dann entlassen, andere versetzt oder rehabilitiert“, erklärt Ennarah. „Diejenigen, die für den Tod von Menschen verantwortlich sind, die gefoltert haben, müssten auch strafrechtlich schnell zur Rechenschaft gezogen werden“, fordert Oberst Mahfuz.

Weitere Punkte sind die Demilitarisierung der Beamten und eine demokratischere Ordnung der Sicherheitskräfte: Gewählte Provinzgouverneure müssten für den Apparat verantwortlich sein, und Polizisten sollten dort eingesetzt werden, wo sie leben, damit sie in der Gesellschaft eingebunden werden.

Leichtfertiger Waffeneinsatz

Wenn es den politischen Willen gäbe, und den gibt es derzeit nicht, dann könnte eine solche Reform fünf bis zehn Jahre dauern, sagt Menschenrechtler Karim Midhat Ennarah. Wichtig wäre – das würden die Ereignisse des vergangenen Jahres zeigen –, die Regeln für den Schusswaffengebrauch sofort zu ändern. Diese seien viel zu flexibel und frei interpretierbar, weswegen die Gerichtsverfahren gegen Polizeioffiziere, die während des Aufstands gegen Mubarak auf Demonstranten schießen ließen, nicht wirklich vorankämen.

Auch die bei den jüngsten Auseinandersetzungen eingesetzten Schrotgewehre zählen zu jenen Schusswaffen, die nur bei unmittelbarer Lebensgefahr eingesetzt werden sollten, wünscht sich Ennarah.

Prozess: Auf einen Blick

13. April 2011: Der gestürzte ägyptische Präsident Hosni Mubarak und seine Söhne Gamal und Alaa werden in Untersuchungshaft genommen.

20. April 2011: Ein Untersuchungsbericht macht Mubarak für den Tod von 846 Menschen während der Unruhen im Jänner und Februar 2011 mitverantwortlich.

24. Mai 2011: Die ägyptische Oberstaatsanwalt erhebt offiziell Anklage gegen Mubarak und seine Söhne.

3. August 2011: Der Prozess gegen Mubarak beginnt. Als Gerichtssaal dient ein umgebauter Hörsaal einer Polizeiakademie in Kairo. Die Anklage lautet: gewaltsames Vorgehen gegen Demonstranten, Amtsmissbrauch und illegale Bereicherung.

Februar 2012: Das Urteil wird erwartet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.02.2012)

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