"Bereit, bis zum Äußersten zu gehen"

Cohn-Bendit
Cohn-Bendit(c) EPA
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Vor Beginn der ORF-Wahlfahrten, auf denen Settele mit Kandidaten der EU-Parlamentsparteien auf Kurzreisen geht, traf die »Presse am Sonntag« Daniel Cohn-Bendit, den Vizechef der grünen Fraktion im EU-Parlament, zum Abschiedsinterview.

20 Jahre EU-Parlament gehen zu Ende. Wo haben Sie mehr erreicht? Mit Straßenschlachten oder im EU-Parlament?

Daniel Cohn-Bendit: Das kann man nicht vergleichen. Ich habe den Eindruck, dass wir auf der Straße vieles bewegt haben, und ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Parlament viel bewegt haben.

Wo sehen Sie Ihre Handschrift, die Sie in der Auseinandersetzung Ende der 1960er, Anfang der 70er Jahre hinterlassen haben, und wo Ihre Handschrift nach 20 Jahren als EU-Parlamentarier?

Wenn man in einer Revolte groß geworden ist, muss man aufpassen, dass man nicht suggeriert: Die Revolte war ich. Ich symbolisierte eine andere gesellschaftliche Zukunft. Ich war derjenige, der eine festgefahrene Gesellschaft durch Leichtigkeit und Ironie sprengte. Im Europaparlament war ich derjenige, der in bestimmten Momenten durch seine Intervention den historischen Moment richtig beschrieben hat und deswegen für viele faszinierend war.


Wo haben Sie wirklich etwas verändert?

Ich war ein kleines Rädchen. In der Globalisierung, der Regulierung, da gab's ein Umdenken.

Es wirkt, als würde die EU in einer Sackgasse festsitzen und sich zwischen nationalen und sozialen Interessen aufreiben. Woran liegt das?

Wir erleben einen epochalen Umbruch. Seit 50 Jahren versuchen wir, den Prozess der Entwicklung einer europäischen Demokratie zu gestalten. Wie lang haben die Nationalstaaten gebraucht, bis sie eine Demokratie wurden? Europa entwickelt sich. Jetzt müssen wir sagen, dass die nationale Souveränität durch die Globalisierung gesprengt wurde.

Entwickelt sich Europa nicht nach rechts? Europaskeptiker und nationale Parteien dürften am 25. Mai als gestärkte Kraft hervorgehen.

In dreißig Jahren wird kein Mitgliedstaat der Europäischen Union Mitglied der G8, der reichsten Industrienationen, sein. Wollen wir von den anderen beherrscht werden, oder wollen wir unser Leben selbst beherrschen? Meine Perspektive sind die Vereinigten Staaten von Europa, dass Europa im Sicherheitsrat vertreten ist – ich weiß, dass das nicht für morgen möglich ist. Nur es gibt wenige, die Mumm haben, das zu sagen. Weil sie Angst haben, dass Menschen sagen: „Das ist furchtbar idealistisch!“ Man kann auch furchtbar langweilig sein.

Sie haben einmal gesagt, Regierungen, Parlamentariern mangelt es nicht am guten Willen, sie sind nicht in der Lage, sich zentralen Realitäten der modernen Welt zu stellen.

Sie sind nicht in der Lage, sich der Realität der Entwicklung der Globalisierung, des Klimawandels zu stellen. Wir werden den Klimawandel, die Regulierung der Globalisierung, die Regulierung der Finanzmärkte nicht schaffen als kleine Nationalstaaten. Ein Beispiel, furchtbar ungrün. Wir haben in Europa 1,8 Millionen Soldaten in Uniform. Können Sie mir sagen, wozu? Wie wäre es mit einer europäischen Armee?

Wie kommt denn die Idee der EU-Armee in Ihrer Fraktion an?

Das ist der große Irrtum vieler Grünen: Eigentlich ist der Mensch gut, nur die Verhältnisse sind böse – machen wir die Verhältnisse anders, und alles wird gut. Natürlich brauchen wir in der Welt von morgen eine Armee.

Sie fordern, dass Putin isoliert wird. Glauben Sie, dass Sanktionen Russland wirklich dazu bewegen können, aus der Krim abzuziehen?

Weiß ich nicht. Man muss zeigen, wir sind bereit, bis zum Äußersten zu gehen.

Was ist das Äußerste?

Wir kaufen kein Gas mehr. Das wird schwer für uns. Aber das ist auch schwer für Putin.

Aber warum soll sich die Krim nicht abspalten dürfen?

Wenn man sagt, alle sollen sich an einen Tisch setzten, weil die Ukraine sich neu definieren soll, soll die Ukraine eine neue Verfassung haben. Aber wenn man 20.000 Soldaten schickt, denen man keine Abzeichen gibt, und so tut, als kämen die vom Mond, ist das völkerrechtswidrig. Das darf man nicht hinnehmen. Jetzt kommen Sie mit dem Kosovo.

Ja, jetzt komme ich dann aber mit Gerhard Schröder. Er hat zur Verteidigung Putins gesagt: Die Okkupation ist völkerrechtswidrig, aber das Gleiche wurde im Kosovo getan.

Er soll endlich die Klappe halten. Basta, Schröder.

Unterstellen Sie ihm wirtschaftliche Interessen?

Er ist doch auf der Gehaltsliste von Putin. Sie können als Bundeskanzler nicht eine Pipeline mit Russland beschließen, zwei Monate später werden Sie abgewählt und von Gazprom eingestellt. Gerhard Schröder ist moralisch gescheitert. Zum Kosovo: Angenommen, es stimmt, dass das völkerrechtswidrig war. Deswegen darf Putin völkerrechtswidrig handeln? Putin ist ein autoritärer Antidemokrat. Jetzt der letzte Punkt. Da werden Sie kommen: „Ja, aber 70 Prozent sind einverstanden.“ Und? Was bedeutet das? 70 Prozent waren mit Hitler einverstanden. Die Mehrheit hat nicht immer recht.

Dadurch, dass es bei dieser EU-Wahl erstmals Spitzenkandidaten der Fraktionen gibt, sieht es so aus, als würde entweder Jean-Claude Juncker oder Martin Schulz Kommissionspräsident werden. Wem von den beiden trauen Sie denn die Lösung solcher Krisen zu?

Keinem.

Warum?

Jean-Claude Juncker stellt sich hin: „Ich will ein soziales Europa.“ Dann frage ich mich: Was hat er gemacht als Euro-Gruppen-Vorsitzender? Wenn er gewählt wird, wird er von der Person, die ihn dahin gebracht hat – Frau Merkel – abhängen. Linker als Schulz ist keiner, ökologischer keiner, regulierender keiner, seine Reden sind bombastisch. Nur zum Freihandelsabkommen gegen Amerika schweigt er. Angenommen, die Sozialdemokraten sind vorn. Schulz wird Kandidat, muss vorgeschlagen und vom Rat akzeptiert werden. Dann muss er auch von Deutschland – also Frau Merkel – vorgeschlagen werden. Drittens: Sie werden im Parlament starke nationalistische, antieuropäische Kräfte haben. Die Mehrheitssuche wird schwieriger. Die Gefahr ist, dass der Zwang zu einer Großen Koalition stärker werden wird. Deswegen glaube ich, dass wir die europäischen Grünen und die liberalen Demokraten stärken müssen. Das sind die Kräfte, die die Möglichkeit haben, die Lähmung der Großen Koalition zu verhindern. Dann wird man sehen, wer Kommissionspräsident von Merkels Gnaden wird.

Für die Grünen in Europa schaut es nicht sehr rosig aus. Was ist die Ursache?

Es ist uns im Angesicht der Krisen nicht gelungen, klarzumachen, dass die ökologische Antwort auch eine ökonomische und finanzregulierende Antwort ist.

Die Unbedingtheit des Aufbruchs in den 1980ern hat einem professionellen Polit-Management Platz gemacht. Fehlt den Grünen der radikale Impetus?

Wir brauchen beides.

Sind die Grünen das geworden, was vermutlich auch sie nie wollten: Teil des Establishments?

Ja, nein. Die Grünen sind zu sehr eingemauert im politischen Alltag. Wir haben vergessen, die Gegenwart an der Vergangenheit zu messen und die Gegenwart aufgrund einer Vision herauszufordern.

Trifft das, was Sie soeben gesagt haben, nach Ihrer Ansicht beispielsweise auch auf die Grünen in Österreich zu?

Ich verstehe Österreich nicht. Der einzige Österreicher, den ich wirklich kenne, ist Alaba.

Wieso nicht?

Das ist ein Land, das sich so wenig mit der Geschichte auseinandergesetzt hat, dass es für mich einfach zukunftsunfähig ist.

Österreich ist zukunftsunfähig?

Ja, zur politischen, gesellschaftlichen Modernisierung. Ein bisschen wie die Schweiz. Reich und retro.

Wenn Sie jetzt zurückschauen – was würden Sie anders machen?

So etwas habe ich immer abgelehnt zu denken.

Wirklich?

Ja. Ich könnte Ihnen sagen, ich hab da sagenhafte zwei Seiten im „großen Basar“ geschrieben.

Sie sprechen Ihr Buch „Der große Basar“ aus dem Jahr 1974 an, in dem sich Textpassagen zur Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern befinden und Jahrzehnte später zu einer heftigen Kontroverse und einer Pädophiliedebatte führten.

Ja, ich könnte Ihnen sagen, wenn jetzt 1974 wäre, würde ich es nicht schreiben. Das wäre billig. Ich habe es geschrieben. Es war in einer Zeit, in der wir in der Frage Aufbruch/Sexualität über das Ziel hinausgeschossen haben und ich die Konsequenzen dessen, was ich schreibe, nicht gesehen habe. Deswegen sind diese Seiten heute so unerträglich. Es war kein Skandal, es ist erst 20 Jahre später ein Skandal geworden, weil das, was ich geschrieben habe, skandalös war.

Man wirft Ihnen vor, dass Sie Ihre Fehler nicht wirklich zugeben können?

Das ist überhaupt nicht wahr. Ich habe diesen Fehler sofort zugegeben.

Diesen Schatten aus der Vergangenheit werden sie nicht mehr los?

C'est la vie. Das ist so. Es gibt keinen Menschen, der keinen Schatten in der Vergangenheit hat. Keinen Menschen. Weder den Papst noch sonst irgendjemanden.

Wie wird es für Sie nach dem Abschied aus dem Europaparlament weitergehen?

Ich will versuchen, mich wieder neu zu orientieren. Im Sommer drehe ich einen Dokumentarfilm in Brasilien während der Weltmeisterschaft. Ich möchte ein Buch schreiben über „Was ist mein Judentum“. Das ist für mich ein Identitätsproblem – ich bin nicht religiös. Trotzdem kann ich nicht sagen, ich bin nicht Jude. Was ist mein Judentum in der Diaspora? Das möchte ich versuchen zu entwickeln.

Zur Person

Lisa Totzauer.
Die „Wahlfahrt“ vor der Nationalratswahl 2013 war ihr bisher jüngstes journalistisches Baby. Nun wird das Format vor der EU-Wahl wieder aufgenommen. Lisa Totzauer ist Infochefin von ORF 1, damit auch für „ZiB Flash“, „ZiB-Magazin“ oder „ZiB 20“ verantwortlich. Ihr Kampfauftrag: die unter 30-Jährigen beim ORF zu halten.

ZUR PERSON

Daniel Cohn-Bendit
Der Vizevorsitzende der grünen Fraktion im Europaparlament kandidiert nach 20 Jahren Zugehörigkeit bei der Wahl am 25.Mai nicht mehr. Er wird in wenigen Tagen, am 4. April, 69Jahre alt.

Cohn-Bendit ist 1968 als Sprecher der revoltierenden Studenten in Paris mit einem Schlag international bekannt geworden. Danach engagierte er sich in der Frankfurter Sponti-Szene, später bei den Grünen. Dort zählte er seit 1978 zum Realo-Flügel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2014)

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