Van der Bellen: "EU-Beitritt in immer weiterer Ferne"

Die Annäherung zur EU steht in immer weiterer Ferne.
Die Annäherung zur EU steht in immer weiterer Ferne.APA/AFP/CEM TURKEL
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Der Bundespräsident mahnt trotz "besorgniserregender" Entwicklungen zum Dialog mit der Türkei. Außenminister Kurz fordert ein Ende der Beitrittsgespräche.

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat ein klares Signal der EU nach dem mehrheitlichen Ja in der Türkei für die umstrittene Verfassungsreform gefordert. Wenn das Ja auch "sehr knapp" ausgefallen sei, bedeute es, dass sich die Türkei immer weiter von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entferne. Das Votum sei daher "ein klares Signal gegen die Europäische Union", auf das er sich eine klare Reaktion aus Brüssel erwarte.

Kurz erneuerte seine Forderung nach Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara: "Die Türkei kann nicht Mitglied werden." Stattdessen sprach er sich erneut für einen Nachbarschaftsvertrag aus. Jedenfalls müsse es klare Regeln für jene Bereiche geben, in denen mit der Türkei - aufgrund ihrer geografischen Lage nun einmal "unser Nachbar" - Zusammenarbeit nötig sei. "Die Türkei ist ein wichtiger regionaler Partner, kann aber in dieser Konstellation sicher nicht EU-Mitglied werden", sagte auch Vizekanzler Reinhold Mitterlehner am Montag.

Nach vorläufigen Angaben der türkischen Wahlkommission hatten am Sonntag 51,4 Prozent für die Verfassungsänderung gestimmt, die Erdogan einen deutlichen Machtzuwachs bescheren soll. Die Gegner erreichten demnach 48,6 Prozent. Erdogan erklärte sich zum Sieger des Referendums. Die Opposition zog die Rechtmäßigkeit der Abstimmung aber in Zweifel und kündigte an, das Ergebnis anzufechten.

Van der Bellen: "Tür nicht mit lautem Knall zuschlagen"

Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen stellte einen EU-Beitritt der Türkei in Frage: "Mit dem umstrittenen und knappen 'Ja' zu einem 'autoritären Präsidialsystem'" bewege sich Ankara weiter von den demokratischen Werten und Standards Europas. "Ein EU-Beitritt der Türkei rückt in immer weitere Ferne", erklärte der Präsident in einer Aussendung.

Die Entwicklung der Türkei gebe "Anlass zu großer Sorge", die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei werde mit dieser Entscheidung noch schwieriger werden. "Dennoch sollten wir besonnen bleiben und die Tür nicht mit einem lauten Knall zuschlagen, sondern mit der Türkei im Gespräch bleiben", so der Bundespräsident am Ostermontag. Eine weitere Eskalation sei weder im Interesse der EU noch der Türkei.

Gleichzeitig betonte das Staatsoberhaupt, "die Türkei ist und bleibt wichtiger Nachbar Europas", eine Zusammenarbeit sei auch in Zukunft notwendig. Ein "völliges Abwenden des Landes von der EU" sei weder im Interesse der Türkei noch im Interesse Europas.

Strache: "Totalversagen von "ÖVP, SPÖ und Grünen"

Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) ging in einem Tweet nach Verkündung des vorläufigen Wahlergebnisses auf den knappen Vorsprung des Ja-Lagers ein: "Erdogan hat den Bruch mit dem europäischen Grundkonsens von Demokratie und Rechtsstaat gesucht, fast die Hälfte der Türken ist ihm nicht gefolgt", schriebt er.

Schärfere Töne stimmte am Montag FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache an. Er forderte einen sofortigen Stopp der Beitrittsverhandlungen und der EU-Zahlungen an die Türkei. Angesichts des überproportional hohen Zuspruchs der Türken in Österreich zur neuen Verfassung (73,23 Prozent) meinte Strache, diese "Freunde der Diktatur" sollten "am besten sofort in die Türkei zurückkehren".

Damit sei das "Totalversagen von SPÖ, ÖVP und Grünen" offenbart. "Sie haben mit der türkischen Massenmigration diese Entwicklung nicht nur zugelassen, sie haben diese Parallelgesellschaften durch fehlenden Zwang zur Integration auch noch gefördert", so der Parteichef.

EU fordert Ankara zu nationalem Konsens auf

Die EU-Kommission hatte am Sonntagabend zurückhaltend auf den Ausgang des Verfassungsreferendums in der Türkei reagiert. Man warte noch auf die Bewertung der internationalen Wahlbeobachter, "auch mit Blick auf angebliche Unregelmäßigkeiten", teilten die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel mit.

Die EU-Vertreter riefen die Regierung in Ankara zur Mäßigung auf. Die Regierung müsse bei der Umsetzung der Verfassungsänderungen "den breitest möglichen nationalen Konsens" anstreben, hieß es. Das Streben nach Konsens sei wichtig "angesichts des knappen Ergebnisses und der weitreichenden Konsequenzen der Verfassungszusätze".

Merkel fordert schnellstmöglich Gespräche mit Ankara

Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Erdogan auf, nach seinem knappen Sieg auf seine politischen Gegner zuzugehen. Angesichts der tiefen Spaltung der türkischen Gesellschaft erwarte die Bundesregierung, dass die türkische Regierung "einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht", hieß es am Montag in einer gemeinsamen Erklärung Merkels mit dem deutschen Außenminister Sigmar Gabriel.

Der knappe Ausgang des Volksentscheids bedeute "große Verantwortung für die türkische Staatsführung und für Präsident Erdogan persönlich". Die Bundesregierung nehme das vorläufige Abstimmungsergebnis zur Kenntnis und respektiere das Recht der Türken, über ihre eigene Verfassungsordnung zu entscheiden.

Merkel und Gabriel erinnerten auch daran, dass die Venedig-Kommission des Europarats "gravierende Bedenken sowohl hinsichtlich des Verfahrens als auch der Inhalte dieser Verfassungsreform" geäußert habe. Als Mitglied des Europarats, der OSZE und als EU-Beitrittskandidat, der den Kriterien zu Demokratie und Grundrechtsschutz verpflichtet sei, müsse die Türkei diesen Bedenken Rechnung tragen. "Darüber müssen schnellstmöglich politische Gespräche mit der Türkei stattfinden, sowohl auf bilateraler Ebene als auch zwischen den europäischen Institutionen und der Türkei."

Der Wahlkampf hatte das Verhältnis der Türkei zur EU auf einen Tiefpunkt sinken lassen. Erdogan hatte mit Nazi-Vorwürfen auf die Absage türkischer Wahlkampfauftritte in EU-Ländern reagiert. Der Präsident hatte Europa zudem als "verrottenden Kontinent" bezeichnet und angekündigt, das Verhältnis auf den Prüfstand zu stellen.

(APA)

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