Offene Rechnungen, Rechte der EU-Bürger, Grenze Irland-Nordirland – in allen drei Punkten müssen sich die Briten den Forderungen der Europäer beugen. Am Montag wurde keine abschließende Einigung erreicht.
Den ersten konkreten Hinweis auf einen Durchbruch bei den Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens am Montag lieferte der Londoner Währungsmarkt: Kurz nach elf Uhr Greenwich-Zeit schoss der Wert des britischen Pfund rapide nach oben – zur selben Zeit vermeldete der irische Rundfunk RTÉ, dass Großbritanniens Premierministerin Theresa May und ihr irischer Kollege Leo Varadkar eine Einigung über den Status Nordirlands nach dem Brexit erzielt hätten. Damit wäre die größte Hürde auf dem Weg zum Abschluss der ersten Phase der Austrittsverhandlungen genommen. Hält die britisch-irische Abmachung, dürften die Staats- und Regierungschefs der EU-27 bei ihrem Gipfeltreffen am 14./15. Dezember in Brüssel mit allergrößten Wahrscheinlichkeit feststellen, dass „ausreichend Fortschritt“ erzielt worden sei, um mit den Gesprächen über das zukünftige wirtschaftliche Verhältnis zu beginnen.
Die Gefahr eines Frontalzusammenstoßes scheint – zumindest vorläufig – gebannt. May reiste gestern nach Brüssel, um mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk den Deal zu finalisieren. Nachdem die Brüsseler Behörde die Verhandlungen mit London im Namen der EU-27 führt, muss sie den Mitgliedsstaaten noch vor dem Gipfel nächste Woche signalisieren, ob sie die Eröffnung des neuen Verhandlungskapitels empfiehlt.
Keine abschließende Einigung
Das Treffen zwischen Juncker und der britischen Premierministerin habe allerdings keine abschließende Einigung bringen können, hieß es am späten Montagnachmittag aus Brüssel: Trotz bester Bemühungen und Fortschritten sei es nicht möglich gewesen, heute eine komplette Einigung zu erreichen, sagte Juncker nach dem Treffen.
Juncker zeigte sich aber zuversichtlich, dass bis zum Gipfel Mitte Dezember eine Vereinbarung erzielt werde. Auch May sagte, sie sei zuversichtlich, "dass wir das positiv abschließen". Sie wolle mit Juncker noch vor dem Wochenende wieder zusammenkommen. Auch sie sprach von vielen Fortschritten, "einige Fragen bleiben offen".
Causa Irland härteste Nuss
Neben der Begleichung offener EU-Rechnungen und dem künftigen rechtlichen Status der in Großbritannien lebenden EU-Bürger war die Causa Irland die härteste Nuss, die die Verhandler zu knacken hatten – denn die Teilnahme Irlands und Nordirlands am EU-Binnenmarkt ist integraler Bestandteil des Karfreitagsabkommens von 1998, mit dem der bewaffnete Konflikt zwischen nordirischen Republikanern und Unionisten entschärft werden konnte. Der Brexit drohte diese Grundlage infrage zu stellen, weshalb die Regierung in Dublin darauf beharrte, dass es auch nach dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs keine „harte“ Grenze zwischen Irland und Nordirland geben dürfe.
Der Kompromiss trägt dieser Forderung Rechnung: Gemäß RTÉ habe sich London dazu verpflichtet, dass das regulatorische Regime in Nordirland auch nach dem Brexit an EU-Vorschriften „orientieren“ werde. Diese Formulierung ist ein Geschenk der EU-Verhandler an Theresa May, denn ursprünglich hatten Brüssel und Dublin gefordert, dass die nordirischen Vorschriften von den EU-Regeln „nicht abweichen“ dürfen.
Bleibt Nordirland im EU-Binnenmarkt?
Dieses semantische Zugeständnis dürfte zwar Konsequenzen bei der Auslegung der Austrittsbedingungen haben, es ändert allerdings nicht an der Tatsache, dass es im Brexit-Match momentan 3:0 für die Europäer steht. Punkto Geld sind die Briten in der Zwischenzeit dazu bereit, 40 bis 50 Mrd. Euro nach Brüssel zu überweisen. Für die Rechte in Großbritannien lebender EU-Bürger dürfte weiterhin der EuGH (teil-)zuständig sein. Und die Angleichung der nordirischen Vorschriften an EU-Recht bedeutet de facto, dass Nordirland Teil des europäischen Zollregimes bzw. sogar des EU-Binnenmarkts bleiben kann und die Zollgrenze der EU künftig nicht entlang der heiklen irisch-nordirischen Landgrenze verlaufen muss, sondern das Irische Meer queren wird.
Letzteres entspricht weder dem Austrittsvotum der britischen Bürger vom 23. Juni 2016, wonach Großbritannien als Ganzes die EU verlassen sollte, noch ist es im Sinne der nordirischen Partei DUP, die Mays Mehrheit im Unterhaus garantiert und strikt gegen eine Aufweichung der Bande zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs ist. Wie gedenkt die Premierministerin, mit dem Problem umzugehen? In Westminster ist man bereits darum bemüht, das Sprengpotenzial der Irland-Frage zu minimieren. „Die DUP ist nicht die alleinige Repräsentantin der Bevölkerung Nordirlands“, sagte gestern ein britischer Regierungsvertreter zur „Presse“. In London wird bereits über eine Staatsreform spekuliert, in deren Rahmen Befugnisse an die Landesteile des Vereinigten Königreichs abgetreten werden könnten. Sollte der Brexit-Deal in dieser Form tatsächlich fixiert werden, kommt London an einer Devolution kaum vorbei – denn es scheint schwer vorstellbar, dass sich Schottland damit abfinden könnte, von der EU weiter entfernt zu sein als Nordirland.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2017)