EU-Gipfel: Der doppelte Riss durch Europa

„Entweder wir lösen das gemeinsam – oder es ist unlösbar“ – Kanzler Kern mahnt bei seinem letzten Gipfel zur Migrationsreform.
„Entweder wir lösen das gemeinsam – oder es ist unlösbar“ – Kanzler Kern mahnt bei seinem letzten Gipfel zur Migrationsreform. (c) APA/AFP/JOHN THYS
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Bis Juni soll Europas Asylwesen erneuert und sollen die Grundlagen für die Euroreform fixiert sein. Doch das Misstrauen zwischen Ost und West sowie Nord und Süd erschwert dies.

Brüssel. Christian Kern brachte bei der Ankunft zu seinem vorerst letzten Brüsseler Gipfel als Bundeskanzler das wesentliche politische Problem Europas auf den Punkt: „Es kann nicht sein, dass jemand ausschert, wenn ihm die Beschlüsse nicht passen. Entweder lösen wir das Problem gemeinsam, oder es ist unlösbar“, sagte er bezüglich der Migrationskrise. „Wenn jeder hier egoistisch vorgeht, was soll denn da herauskommen, um Gottes willen? Dann wird jeder seine egoistischen Interessen vertreten, ein paar Länder werden überbleiben, und die europäische Solidarität wird zerfallen.“

So befreit kann nur einer reden, der in wenigen Tagen von den Mühen der Regierungsgeschäfte und der Notwendigkeit diplomatischer Unverbindlichkeit entlastet ist. Denn die offizielle Darstellung in der Brüsseler Politikmaschine ist von beinahe verbissener Zuversichtlichkeit. „Dank Trump und Brexit haben sich die Dinge geändert“, betonte ein hoher EU-Funktionär im Gespräch mit der „Presse“ und anderen Medien.

„2017 war ein gutes Jahr.“ Knapp vor Beginn des Europäischen Ratstreffens trafen noch rosige Nachrichten aus Frankfurt ein. Die Europäische Zentralbank hob ihre Prognosen des Wirtschaftswachstums in der Union für kommendes Jahr von 1,8 auf 2,3 Prozent und für 2019 von 1,7 auf 1,9 Prozent an.

Vor diesem sonnigen Hintergrund haben sich die Chefs für die kommenden sechs Monate zwei Schlüsselfragen vorgenommen. Bis Juni wollen sie eine auf sieben Gesetzestexten fußende totale Reform des europäischen Asylwesens beschließen. Und sie wollen die Grundzüge für den Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion festlegen. „Wir müssen das Dach reparieren, solang die Sonne scheint“, sagte der EU-Funktionär. „Denn wir haben es nicht komplett in unseren Händen, was in unserer Nachbarschaft passiert.“

„Mangel an Einheit sichtbar“

Ob diese Reformen glücken, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Risse zwischen mehreren Gruppen von Staaten zu kitten. „Heute und morgen werden wir uns auch mit Themen beschäftigen, bei denen ein Mangel an Einheit sehr sichtbar ist“, erklärte Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rats und als solcher der Organisator und Schrittmacher der Verhandlungen der Chefs. „Wenn es um die Wirtschafts- und Währungsunion geht, ist die Teilung – und entschuldigen Sie diese geografische Vereinfachung – zwischen Nord und Süd, und wenn es um die Migration geht, ist sie zwischen Ost und West. Diese Trennungen werden von Emotionen begleitet, die es schwermachen, überhaupt eine gemeinsame Sprache und rationale Argumente für diese Debatte zu finden.“

In der Reform des Migrationswesens zeigt sich dieser Vertrauensmangel deutlich am Problem, gemeinsame Asylstandards in allen Mitgliedstaaten zu schaffen – und, in Abkehr vom bisherigen System, welches das erste EU-Land, das ein Flüchtling betritt, für sein Asylverfahren zuständig macht, die Asylwerber nach einem Zahlenschlüssel auf alle Staaten zu verteilen. Das lehnen Polen und Ungarn dezidiert und unter Inkaufnahme von Verurteilungen durch den Gerichtshof der EU ab. Diese Totalverweigerung, Asylwerber aufzunehmen, sorgt wiederum für Missmut bei den Regierungen, welche viele Flüchtlinge zu beherbergen haben. „Man kann sich mit 36 Millionen Euro nicht aus einem europäischen Beschluss herauskaufen. Da geht es um Solidarität mit Italien und Griechenland. Weil beim nächsten Mal die Nettozahler ein anderer Beschluss nicht interessiert“, grollte Kern wegen der von Polen, Ungarn, der Slowakei und Tschechien mit Kommissionschef Juncker und Italiens Regierungschef, Paolo Gentiloni, getroffenen Vereinbarung, sich finanziell an der Grenzsicherung in Libyen zu beteiligen.

Reizwort EU-Finanzminister

Wesensgleich ist das Problem mit der Euroreform. Juncker hat vorige Woche Vorschläge präsentiert, den Euro-Rettungsfonds ESM in einen Europäischen Währungsfonds umzuwandeln und den nächsten Vizepräsidenten der Kommission zu einem EU-Minister für Wirtschaft und Finanzen zu machen. Diesem misstraut man allen voran in Deutschland, weil man darin den Keim einer Transferunion wähnt. Zudem ist Kanzlerin Merkel angesichts der zähen Koalitionsverhandlungen in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt. „2018 ist das Jahr, in dem sich entscheidet, ob wir gemeinsam im Format der 27 weitermachen, oder ob manche ihre eigenen Wege gehen“, warnte der hohe EU-Funktionär vor einem Scheitern der Euro- und Migrationsreform.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2017)

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