Das Treffen von 16 EU-Chefs betonte nationale Prioritäten, gemeinsame Lösungen blieben aus.
Brüssel. Europas Außengrenzen schützen, die illegale Einwanderung eindämmen, das Geschäftsmodell der Menschenschlepper im Mittelmeer brechen: Auf diese Ziele können sich wohl alle Teilnehmer des Arbeitstreffens von 16 Staats- und Regierungschefs einigen, das am Sonntagnachmittag im Hauptquartier der Europäischen Kommission in Brüssel stattfand. Doch jenseits dieser Absichtserklärungen herrscht in Europa in der Frage, wie sich das Menschenrecht auf Zuflucht für Verfolgte bewahren lässt, ohne einer unkontrollierten opportunistischen Massenzuwanderung Tür und Tor zu öffnen, ein tiefes Zerwürfnis.
Im Groben kann man zwei Gruppen an Staaten identifizieren, deren nationale Interessen einander diametral widersprechen. Dies wären erstens die Mittelmeerländer Italien, Griechenland und Spanien, an deren Küsten die meisten Flüchtlinge und Migranten aus West- und Nordafrika landen. Sie beklagen nicht zu Unrecht, dass die Grundregel des europäischen Asylwesens – der erste Mitgliedstaat, dessen Boden ein Asylwerber betritt, ist für ihn zuständig – ihnen unzumutbare Lasten aufbürdet. Insofern ist es schlüssig, dass Italiens neuer Ministerpräsident, Giuseppe Conte, am Sonntag in Brüssel erklärte, diese sogenannte Dublin-Regel „komplett überwinden“ zu wollen.
Dem gegenüber stehen die west- und nordeuropäischen Zielländer der Migranten und Flüchtlinge: Deutschland, Österreich, die Niederlande, die nordischen Staaten, Frankreich. Sie beklagen die Last der „Sekundärmigration“ von Menschen, die Asyl oder einen sonstigen Aufenthaltstitel in einem anderen Land der EU erhalten haben, jedoch aufgrund familiärer Bande, höherer Sozialleistungen oder einer besseren Aussicht auf eine Arbeit weiterziehen. Sie haben an einer Abschaffung der geschilderten Dublin-Regel logischerweise kein Interesse – zumal diese Regel ohnehin viele Ausnahmen kennt (wieso gäbe es sonst in Binnenstaaten wie Österreich Asylberechtigte?).
Das Hauptinteresse dieser Staatengruppe liegt also in der verstärkten Abschiebung illegal aufhältiger Migranten, und sie wollen verhindern, dass allen voran Italien und Griechenland weiterhin viele Neuankömmlinge unter Augenzudrücken untertauchen lassen. Ein Vorschlag, mit dem die Chefs von Frankreich und Spanien, Emmanuel Macron und Pedro Sánchez, diesen Zielkonflikt zu überwinden hoffen, wären geschlossene Erstaufnahmelager, in denen rasch zwischen echten Flüchtlingen mit Asylchancen und aussichtslosen Wirtschaftsmigranten unterschieden wird. Doch kaum hatten sie einen entsprechenden Vorschlag gemacht, schoss Italiens rechtsautoritärer Innenminister und Vizeministerpräsident, Matteo Salvini, schon zurück: „Wenn das arrogante Frankreich glaubt, Italien für ein Trinkgeld in ein einziges Flüchtlingslager verwandeln zu können, ist es komplett auf dem Holzweg.“
Ähnlich problematisch ist der Vorschlag, „regionale Plattformen“ in Drittstaaten (konkret: Nordafrika) einzurichten, um das Auslaufen von Schiffen zu verhindern. Asylanträge solle man dort nicht stellen dürfen, betonte Österreichs ständiger Vertreter bei der EU am Donnerstagnachmittag im Rahmen des Treffens der EU-Botschafter. Das würde nämlich einen „Pull-Faktor auslösen“, warnte er laut dem der „Presse“ vorliegenden Protokoll. Vielmehr könnten diese Plattformen (de facto wären das Flüchtlingslager) „zur Durchführung von freiwilligen Resettlement-Programmen dienen“. Bulgariens Regierungschef, Boiko Borissow (ein, wie beide oft betonen, enger Verbündeter von Bundeskanzler Sebastian Kurz), hingegen sagte am Sonntag, in solchen Lagern außerhalb der EU sollte entschieden werden, wer Asyl bekommt und wer nicht.
Merkel: „Fair miteinander umgehen“
Die Quintessenz all dessen ist die Unmöglichkeit einer schnellen und dauerhaften Auflösung dieser Widersprüche. Stattdessen wird man nun vermehrt zwei- und mehrseitige Absprachen gleichgesinnter Mitgliedstaaten suchen, „wie man fair miteinander umgehen und einen Ausgleich schaffen könnte“, sagte Deutschlands Kanzlerin, Angela Merkel. Das ist angesichts des missgünstigen Umgangs mancher Staats- und Regierungschefs miteinander in der Migrationsfrage ein ehrgeiziges Ziel.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2018)