EU-Verfahren: System Orbán auf der Anklagebank

Viktor Orbán rechtfertigte sich nicht für die kritisierten Verfehlungen. In einem Statement vor dem Europaparlament sprach er von Verrat an seinem Land.
Viktor Orbán rechtfertigte sich nicht für die kritisierten Verfehlungen. In einem Statement vor dem Europaparlament sprach er von Verrat an seinem Land. (c) REUTERS (VINCENT KESSLER)
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Ungarns Regierungschef verärgert immer mehr seiner europäischen Parteifreunde – zuletzt auch Bundeskanzler Kurz. EVP-Fraktionschef Manfred Weber hat angekündigt für ein EU-Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn zu stimmen.

Lang war man aufeinander zugegangen – mit Geduld auf der einen Seite und Kompromissbereitschaft auf der anderen. Doch nun wenden sich die EU-Institutionen, immer mehr EU-Regierungschefs und sogar Parteifreunde aus der gemeinsamen Parteienfamilie EVP von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ab – zuletzt auch Bundeskanzler Sebastian Kurz. Das System Orbán steht seit Dienstag auf der Anklagebank. Am Mittwoch stimmt das Europaparlament über die Einleitung eines Verfahrens wegen Verstößen gegen die gemeinsamen europäischen Grundwerte (Artikel-7-Verfahren) ab, das bis zum Entzug des Stimmrechts im EU-Rat führen kann. Für Orbán, der nach Einwänden der EU-Kommission zu seiner Justizreform oder seinem Mediengesetz während der vergangenen Jahre immer wieder Kompromisse einging, ist die Schlacht bereits geschlagen. „Eine Mehrheit wird morgen gegen uns stimmen“, erklärte er bei einem kurzen Statement vor dem Europaparlament. „Sie werden ein Land und sein Volk verurteilen.“ Weitere Kompromisse hätten bei so viel vorgefasster Meinung keinen Sinn mehr, so der Regierungschef. Hier werde die „Ehre Ungarns verletzt“.

Kritik auch aus der CDU

Zuvor hatten am Dienstag die Vorsitzenden der mit Ungarn befassten Ausschüsse des Europaparlaments ihre Statements abgegeben. Sowohl der Ausschuss für Bürgerrechte, Justiz und Inneres als auch der Haushaltskontrollausschuss, der Kulturausschuss, der Ausschuss für konstitutionelle Fragen und der Ausschuss für Gleichberechtigung empfahlen eine Verurteilung Ungarns. Selbst die aus der CDU stammende Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses, Inge Gräßle, empfahl das Strafverfahren. Sie prangerte Korruption und Misswirtschaft mit EU-Mitteln an. „Ungarn hat heute Züge einer staatlich gelenkten Wirtschaft.“ Der zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, betonte, dass seine Institution die Bewertung des Europaparlaments teile.

Überraschend war zuvor auch Bundeskanzler Sebastian Kurz bei den ORF-Sommergesprächen auf Distanz zu seinem Parteifreund gegangen: „Es gibt keinen Kompromiss bei der Rechtsstaatlichkeit.“ Die ÖVP-Abgeordneten unter der Leitung von Othmar Karas werden deshalb bei der Abstimmung im Europaparlament für die Einleitung des Strafverfahrens stimmen.

Ungarns Führung ließ über regierungsnahe Medien sofort Attacken gegen Kurz los. Zur Verstimmung unter seinen Parteifreunden hat freilich Orbán selbst beigetragen. Er sympathisierte in den vergangenen Monaten immer öfter mit rechtsnationalen Parteien. Sie werden nun auch im EU-Parlament für ihn stimmen. FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky lud ebenso wie sein Parteichef, Heinz Christian Strache, Orbán ein, in die EU-Fraktion aus FPÖ, Front National, Italiens Lega und weiteren Rechtsparteien zu wechseln.

Sollte Orbáns Partei Fidesz mit ihren elf EU-Abgeordneten aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) austreten, würde dies die rechte Fraktion deutlich stärken. Gemeinsam mit zusätzlichen Gruppen aus Polen und Schweden könnte sie nach der Europawahl im Mai 2019 sogar zur zweitstärksten Fraktion des EU-Parlaments aufsteigen. Die EVP dürfte laut bisherigen Umfragen allerdings auch dann noch stärkste Gruppe bleiben.

Was aber wird Ungarns Regierung, die seit 2010 mit Verfassungsmehrheit regiert, vorgeworfen? Der Bericht des Ausschusses für Bürgerrechte, Justiz und Inneres listet zahlreiche Fehlentwicklungen auf. Sie reichen von der Aushöhlung der Verfassung bis hin zur Diskriminierung von international finanzierten Nichtregierungsorganisationen. Als Beispiele nannte die niederländische Berichterstatterin Judith Sargentini das Vorgehen gegen die von George Soros gegründete Central European University (CEU) in Budapest, deren Betrieb nach wie vor gefährdet sei. Die Regierung verstoße hier gegen die akademische Freiheit. Es gäbe aber auch Verstöße gegen den Datenschutz durch die Veröffentlichung von Namen von Regierungsgegnern. Die Medienvielfalt sei zuletzt erneut durch die Übernahme des unabhängigen Fernsehsenders HirTV durch einen Freund Orbáns beschränkt worden. Außerdem gebe es Korruption, Missbrauch von EU-Geldern und Günstlingswirtschaft. Dass Ungarns Regierung auch nicht vor einem Bruch der Grund- und Menschenrechte zurückschreckt, sei zuletzt durch den Entzug von Nahrung für Asylwerber belegt worden.

EVP-Chef Weber will für Verfahren stimmen

EVP-Fraktionschef Manfred Weber hat am Dienstagabend nach einer Fraktionssitzung in Straßburg angekündigt, am Mittwoch für ein EU-Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn zu stimmen.

Ansonsten gab es in der Europäischen Volkspartei (EVP) - der größten Gruppierung im EU-Parlament, der Orbans Fidesz angehört - keine einheitliche Linie. Weber kündigte an, alle Delegationen könnten selbst entscheiden, wie sie im Falle Ungarns abstimmen werden. Die ÖVP-Abgeordneten wollen für ein EU-Verfahren gegen Ungarn stimmen.

Vorwürfe gegen Ungarn (Auswahl)

1 Verfassung und Wahlsystem. Aufgaben von Höchstrichtern wurden beschränkt, Volksbefragungen als Kampagnen missbraucht.

2 Unabhängigkeit der Justiz. Richter wurden ausgetauscht, Staatsanwälten Fälle entzogen.

3 Akademische Freiheit. Diskriminierende Auflagen belasten internationale Bildungseinrichtungen wie die CEU.

4 Schutz privater Daten. Die politische Führung veröffentlichte die Namen von Regierungsgegnern.

5 Minderheiten. Für Roma wird der Zugang zu Schulen eingeschränkt. Gewalt und Hetze werden nicht ausreichend geahndet.

6 Grundrechte. Asylwerbern wurde die Nahrung entzogen, es gibt dokumentierte Gewalt gegen Migranten durch Sicherheitskräfte.

7 Korruption. Ungarn weist die meisten untersuchten Korruptionsfälle mit EU-Mitteln (Olaf-Fälle) auf.

8 Meinungs- und Pressefreiheit. TV-Sender wie HirTV werden auf Regierungslinie gebracht.

9 Zivilgesellschaft. Die Arbeit von internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), wird durch neue Gesetze eingeschränkt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2018)

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