Der EU-Vorsitz muss Ungarns Verstöße im Rat zur Abstimmung bringen, moderieren und ständige Überprüfungen einleiten.
Der klare Beschluss des Europaparlaments zur Einleitung eines Artikel-7-Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn hat politische Folgen. Nach Polen droht nun einem weiteren Land der Entzug des Stimmrechts im Rat der EU. Damit spitzt sich nicht nur der Konflikt zwischen West- und Osteuropa zu. Auch Österreich, dessen Bundeskanzler Sebastian Kurz sich für das Verfahren ausgesprochen hatte, wird als EU-Vorsitzland in den Konflikt involviert.
Ungarns Außenminister Peter Szijjarto kündigte eine Anfechtung der Entscheidung an. Sie sei ein „kleinlicher Racheakt von zuwanderungsfreundlichen Politikern gegen Ungarn.“ Bleibt die ungarische Regierungspartei Fidesz auf Konfrontationskurs, dürften sich auch die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament ändern. Nämlich dann, wenn die Fidesz ihre bisherige politische Heimat im Kreis der Europäischen Volkspartei (EVP), die mehrheitlich für das Verfahren gestimmt hatte, verlässt und in eine rechtsnationale Fraktion wechselt. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte gegenüber der „Presse“: „Wäre ich Europaabgeordneter, hätte ich heute für Artikel 7 gestimmt.” Und er sieht auch Folgen für die Parteienfamilie: „Ich habe ein Problem mit der Mitgliedschaft von Orbán in der EVP.”
Nicht zuletzt wird sich zeigen, ob die Europäische Union überhaupt fähig ist, die Abkehr einzelner Mitgliedstaaten von den gemeinsam beschlossenen Werten hinsichtlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu korrigieren. Eine Schlüsselrolle wird dabei die österreichische EU-Präsidentschaft spielen. Denn es wird an ihr liegen, das weitere Verfahren im Rat (Gremium der EU-Regierungen) einzuleiten und zu moderieren. Wie esaus dem Bundeskanzleramt heißt, sei man gewillt, Ungarn so bald wie möglich auf die Tagesordnung zu setzen.
Nur FPÖ-Abgeordnete stimmten dagegen
Deutschland drängt bereits zum Handeln. 448 Europaabgeordnete, darunter eine klare Mehrheit der deutschen und österreichischen Mandatare, hatten im Europaparlament für das Verfahren gestimmt. Geschlossen stimmten die ÖVP, SPÖ, Grüne und Liberale dafür, nur die FPÖ stimmte so wie weitere rechtsnationale Gruppen dagegen. Bereits im Oktober könnte das Rechtsstaatsverfahren im Rat der Europaminister abgestimmt werden. Dann beginnt das nächste Machtspiel. Im Rat braucht es eine Vierfünftelmehrheit ohne Ungarn. Das heißt: mindestens 22 Regierungen müssen den nächsten Schritt – die Feststellung einer Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn – beschließen. Budapest kann mit Unterstützung aus Warschau und eventuell auch den restlichen Visegrád-Ländern rechnen. Auch Italien könnte sich auf die Seite Ungarns schlagen. Unklar ist, wie sich die britische Regierung entscheiden wird, die einer Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten bisher skeptisch gegenüber stand.
Kommt der Beschluss zustande, hat das freilich noch keine direkten Folgen. „Ungarn hat beispielsweise weiterhin das Recht auf Zahlungen aus dem EU-Budget“, so der Europarechtlicher Walter Obwexer. Allerdings wird in dieser Phase erneut der Ratspräsidentschaft eine gewichtige Rolle zukommen. Sie muss eine Beobachtung Ungarns einleiten. Regelmäßig wird überprüft, ob noch die Gefahr von Rechtsstaatsverletzungen besteht oder Korrekturen vorgenommen wurden. Erst wenn es keine Verbesserungen gibt, können die Staats- und Regierungschefs der EU (ohne Ungarn) Sanktionen beschließen. Ob es je dazu kommt, ist mehr als fraglich.
Dass die nächsten Monate für Ungarn dennoch nicht einfach werden, zeigt allein die Entwicklung auf den Finanzmärkten: Der Budapester Aktienindex drehte am Mittwoch ins Minus. Die Landeswährung Forint geriet ebenfalls unter Druck. Und auch innenpolitische Spannungen sind zu erwarten. Für Samstag ist die erste Großdemonstration gegen Orbán in Budapest geplant.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2018)