Nach Brexit-Einigung: Rücktrittswelle in Mays Kabinett

Nach der Sondersitzung in London war Premierministerin May Mittwochabend vor die Kameras getreten.
Nach der Sondersitzung in London war Premierministerin May Mittwochabend vor die Kameras getreten.(c) Getty Images (Leon Neal)
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Die britische Premierministerin Theresa May musste sich stundenlang abmühen, ihr Kabinett von der Brexit-Einigung zu überzeugen. Erst verkündete sie die Zustimmung. Doch Brexit-Minister Dominic Raab tritt zurück - als einer von mehreren Ministern.

Die britische Regierung hat dem Abkommen mit der EU-Kommission über den Austritt aus der EU zugestimmt. Doch wie wertvoll diese formale Zustimmung ist, wird sich erst zeigen. Mehrere Minister aus dem Kabinett von Premierministerin Theresa May haben ihren Rücktritt angekündigt, darunter auch der Chefverhandler der Briten: Brexit-Minister Dominic Raab. Er könne die Vereinbarung zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nicht mittragen, teilt er in einem Schreiben mit.

Vor allem mit den Passagen zum künftigen Status von Nordirland ist Raab nicht zufrieden. Auch die Notfallklausel "Backstop" stößt bei ihm auf Widerstand. Der Backstop sieht vor, dass Nordirland in der Zollunion mit der EU und regulatorisch teilweise im EU-Binnenmarkt verankert bleibt, nicht aber ganz Großbritannien. "Sie verdienen einen Brexit-Minister, der den Deal mit Überzeugung vertreten kann. Es tut mir leid, mit gutem Gewissen kann ich das nicht", schreibt Raab in einem auf Twitter veröffentlichten Brief an May. Er zollte May darin aber auch "Respekt" für ihre Stärke in schwierigen Zeiten. Brexit-Staatssekretärin Suella Bravermann trat ebenfalls zurück.

Auch die britische Arbeitsministerin Esther McVey und der britische Nordirland-Staatssekretär Shailesh Vara erklärten ihren Rücktritt. Das geplante Abkommen lasse offen, wann das Vereinigte Königreich "endlich ein souveräner Staat" werde, begründete Vara seine Entscheidung. Er bezeichnete Großbritannien als "stolze Nation", die nicht darauf reduziert werden sollte, den Regeln anderer Länder zu gehorchen. "Die Menschen in Großbritannien verdienen Besseres."

Nach der Sondersitzung in London war Premierministerin May Mittwochabend vor die Kameras getreten und hatte erklärte: „Die kollektive Entscheidung des Kabinetts war es, dass die Regierung die Vereinbarung unterstützen soll.“ Dies sei „im nationalen Interesse“, und werde es erlauben, „das Ergebnis der Volksabstimmung umzusetzen“. Die Briten hatten im Juni 2016 für den Austritt aus der EU gestimmt.

Die Brexit-Hardliner machen sich bereit

Die Regierungssitzung verlief offenbar weit turbulenter als von May erwartet worden war. Durchaus zuversichtlich war schon zum Auftakt eine Erklärung der Premierministerin nach drei Stunden angekündigt worden. Geworden sind es fast fünfeinhalb. Die lange Wartezeit gab Anlass zu wilden Spekulationen, aber auch den zahlreichen politischen Gegnern Mays, Drohungen zu äußern und Position zu beziehen. So ließen die Brexit-Ultras der European Research Group unter Jacob Rees-Mogg wissen, man sei „haarscharf“ daran, einen Misstrauensantrag gegen die Regierungschefin vorzubereiten.

Wie viel davon Theaterdonner und wie viel davon echte Drohung ist, wird sich rasch herausstellen. Eine erste Probe erfolgt heute, Donnerstag, wenn May das Unterhaus über den Abkommensentwurf informieren wird.  Zu den umstrittenen Plänen, um Grenzkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu verhindern, gebe es keine Alternative, sagte May im Parlament. Sie rief die Abgeordneten auf, das Abkommen zu unterstützen. Das Parlament wird voraussichtlich im Dezember darüber abstimmen.

Größter Stolperstein kommt erst

Der größte Vorteil von May in der finalen Brexit-Phase: Ihre Gegner haben weder einen Alternativplan noch die Zeit, einen auszuarbeiten. Doch viele Rebellen mochten auch darauf verzichtet haben, sich in offene Konfrontation mit der Premierministerin zu begeben, da der größte Stolperstein ohnehin erst kommt: Vorausgesetzt der Deal wird von dem EU-Sondergipfel und dem Europaparlament abgesegnet, dann hat das britische Parlament das letzte Wort. Eine Mehrheit im Unterhaus ist nach gegenwärtigem Stand höchst unwahrscheinlich. In zahllosen Wortmeldungen machten Abgeordneten aller Fraktionen bereits klar, dass sie dem Abkommen nicht zustimmen würden. Da May eine Minderheitsregierung führt, ist sie auf die Zustimmung von fremder Seite angewiesen. Für die verbündete nordirische DUP erklärte Klubchef Jeffrey Donaldson: „Das sieht nicht aus wie etwas, das wir unterstützen können. Das ist nicht der richtige Brexit.“

Auf die Mehrheit der Labour-Fraktion kann May, wie ihr Chef Jeremy Corbyn gestern erneut deutlich machte, nicht zählen, obwohl die Partei zum Brexit mindestens so gespalten ist wie die Konservativen. Die Parteiführung will aber um jeden Preis einen Sturz der Regierung erzwingen und zieht Neuwahlen einer Abkehr vom Brexit vor.
Unter den 315 Tory-Abgeordneten sollen etwa 40 Hardliner entschlossen sein, gegen das Abkommen zu stimmen. Umgekehrt gaben gestern auch mehrere EU-Befürworter unter den Konservativen ihren Widerstand zu Protokoll. So sagte der frühere Generalanwalt Dominic Grieve: „Ich kann meinen Wählern nicht sagen, das ist ein besserer Deal als es unsere EU-Mitgliedschaft ist, und daher werde ich dagegen stimmen.“

Die Abstimmung durch die 650 Mitglieder des britischen Unterhauses wird für Mitte Dezember erwartet. Bei einem Scheitern im Parlament halten immer mehr Experten eine neue Volksabstimmung für möglich. Der Doyen der britischen Meinungsforschung, Peter Kellner, sagte zur „Presse“: „Wir hätten hier einen klassischen Fall der Selbstausschaltung der politischen Klasse, die dem Volk sagen müsste: Wir schaffen es nicht, wir brauchen einen neuen Auftrag vom Souverän.“ Die Forderung nach einer neuen Volksabstimmung wird von drei der vier letzten Premierminister getragen: John Major, Tony Blair und Gordon Brown. Nur David Cameron schweigt. Er hat das EU-Referendum von 2016 zu verantworten. May wies Forderungen nach einem neuen Votum gestern erneut zurück. Möglicherweise wird ihr aber kein anderer Ausweg bleiben.

EU plant Gipfel am 25. November

Auf EU-Seite zeigte man sich mit der Einigung zufrieden. Chefverhandler Michel Barnier sprach von einem "entscheidenden Fortschritt". Er zeigte sich zufrieden: „Die Rechte der Bürger haben für uns immer höchste Priorität gehabt, und zwar sowohl jene der EU-Bürger in Großbritannien als auch jene der Briten, die sich in der EU aufhalten." Für Barnier ist das Ziel erreicht worden, eine "harte Grenze" mit wiedereingeführten Kontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und Irland zu verhindern. Ziel sei es, die Frage während der geplanten Übergangsphase bis Ende 2020 nach dem Brexit abschließend zu klären, sagte Barnier am Mittwochabend. Reiche die Zeit nicht, könne die Übergangsphase "für einen begrenzte Zeitraum" verlängert werden, oder es greife eine Auffanglösung, in der das gesamte Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibe. Die Nordirland-Frage hatte über Monate einen Abschluss der Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien verhindert.

Der für die Einberufung von Gipfeln der Staats- und Regierungschefs zuständige EU-Ratspräsident Donald Tusk traf Barnier am Donnerstag in der Früh. Wie Tusk danach mitteilte, wird der Brexit-Gipfel am 25. November stattfinden. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sieht die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien fast am Ziel. Er sehe genügend Fortschritt, um die Verhandlungen nun zu beenden, schrieb Juncker am Mittwoch im Kurznachrichtendienst Twitter. EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani zeigte sich mit den Eckpunkten des Vertrags ebenfalls zufrieden.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Einigung begrüßt. Sie sei "sehr froh", dass es gelungen sei, "in langen und nicht ganz einfachen Verhandlungen einen Vorschlag zu unterbreiten", sagte Merkel am Donnerstag nach der Kabinettsklausur in Potsdam.

Österreichs EU-Minister Gernot Blümel (ÖVP) hat für den 19. November einen Rat Allgemeine Angelegenheiten im Brexit Format (Art. 50) einberufen. "Die zuständigen Minister beraten über das Austrittsabkommen und über die politische Erklärung zum zukünftigen Verhältnis und bereiten den Brexit-Sondergipfel vor", teilte das Büro des Kanzleramtsministers am Donnerstag mit.

Eine Einigung muss spätestens im Dezember stehen, um die Ratifizierung durch die Parlamente auf beiden Seiten rechtzeitig vor dem Ende der britischen EU-Mitgliedschaft am 29. März 2019 zu ermöglichen.

>>> Hier geht es zum Brexit-Dokument, auf das sich EU und Großbritannien geeinigt haben:

Dokument zwischen EU und Großbritannien
1.4 MB

(APA)

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