Großbritannien/EU: Exit vom Brexit wird möglich

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EuGH-Generalanwalt argumentiert, dass London vom EU-Austritt zurücktreten kann.

Luxemburg/London. Ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, verborgen in einem Geheimnis – spätestens seit Dienstag trifft diese alte englische Redewendung auch auf Großbritanniens Austritt aus der EU zu. Der ohnehin unübersichtliche Prozess, der sich zwischen Regionen, Parteien, Regierungen und EU-Institutionen entsponnen hat, ist seit gestern um eine Facette reicher: Nach einem Gutachten des Generalanwalts des Europäischen Gerichtshofs dürfen die Briten ihr Austrittsgesuch einseitig zurückziehen und den Brexit ausfallen lassen.

Den Stein (Rechtssache C-621/18) ins Rollen gebracht hatten schottische Austrittsgegner, die über den Umweg des schottischen Höchstgerichts vom EuGH wissen wollten, ob die britische Regierung dazu ermächtigt sei, vom Brexit zurückzutreten – im Artikel 50 des EU-Vertrags, der das Austrittsprozedere regelt, ist ein Rückzieher nämlich nicht vorgesehen. Das Gutachten des Generalanwalts ist nicht bindend, doch in den allermeisten Fällen folgen die Luxemburger Höchstrichter seiner Argumentationslinie – ihr Richtspruch wird für die kommenden Wochen erwartet. Und in der Causa Exit vom Brexit argumentiert der spanische EuGH-Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona jedenfalls sehr schlüssig.

Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist die Feststellung, dass der Antrag auf EU-Austritt als ein souveräner Akt Großbritanniens zu werten sei. Ein Zurückziehen des Austrittsgesuchs wäre demnach ebenso souverän – und sollte nicht von anderen Unionsmitgliedern beschränkt werden. Hätten nicht die Briten, sondern die übrigen EU-Mitglieder das letzte Wort, „würde dies die Gefahr erhöhen, dass der Mitgliedstaat die Union gegen seinen Willen verlassen müsste, da das Recht, aus der Union auszutreten [. . .], seiner Kontrolle, seiner Souveränität und seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften entzogen wäre“, schreibt Sánchez-Bordona. Entgegen der Intention seiner Verfasser wäre Artikel 50 damit zu einem Instrument mutiert, um renitente Mitgliedstaaten aus der Union zu schmeißen.

Angst vor Missbrauch

Rat, EU-Kommission und die britische Regierung hatten im Verfahren gegen eine Rücktrittsoption argumentiert – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Während Premierministerin Theresa May verhindern will, dass der Brexit abgeblasen wird, befürchtet Brüssel, dass der Artikel-50-Prozess künftig von Mitgliedstaaten missbraucht werden könnte, die von der EU Zugeständnisse erpressen wollen.
Diese Gefahr sieht EuGH-Generalanwalt Sánchez-Bordona nicht – seinen Ausführungen zufolge muss der Rücktritt vom Austritt „die Grundsätze des guten Glaubens und der loyalen Zusammenarbeit“ einhalten, um wirksam zu sein. Soll heißen: Taktische Manöver, um den Fristenlauf zu verlängern und die EU unter Druck zu setzen, würden die Rücknahme des Austrittsgesuchs ungültig machen.

Keine Mehrheit in Sicht

Ist der Brexit damit abgeblasen? So einfach ist es nicht. Der bereits erwähnte Verweis auf „verfassungsrechtliche Vorschriften“ bedeutet nämlich, dass der Beschluss über einen Rücktritt vom Brexit auf demselben Weg gefällt werden muss wie der Beschluss über den Brexit selbst – also mittels eines Votums des britischen Unterhauses. Genau an dieser Stelle fangen für die britischen Austrittsgegner die Probleme an. Das im Juni 2018 in Kraft getretene Austrittsgesetz hat nämlich den 29. März als Austrittsdatum fixiert. Um den Brexit aufzuhalten, müsste das Unterhaus dieses Gesetz ändern – nur ist derzeit keine Mehrheit dafür in Sicht, denn die Unterhausabgeordneten sind bezüglich des EU-Austritts zutiefst gespalten. Die Bandbreite der Präferenzen reicht von der Umsetzung von Mays Austrittsdeal über den Verbleib im EU-Binnenmarkt bis hin zum totalen Bruch mit Europa oder einer Wiederholung des Brexit-Referendums.

Doch möglicherweise wird sich in den kommenden Tagen die kritische Masse für eine dieser Varianten herauskristallisieren. Dienstagnachmittag startete im Unterhaus eine fünftägige Debatte über den Brexit, an deren Ende ein Votum über den vorliegenden, von May fixierten Austrittsvertrag steht. Derzeit muss die Premierministerin mit einer Abstimmungsniederlage rechnen.

Auf einen Blick

Zeitplan. Am 11. Dezember stimmt das britische Unterhaus über den Austrittsvertrag ab – lehnen die Abgeordneten Theresa Mays Deal ab, bleibt der Premierministerin Zeit bis Ende Jänner, um eine Alternative vorzulegen. Wenn Regierung und Parlament nicht auf einen grünen Zweig kommen können, tritt Großbritannien am 29. März 2019 automatisch aus der EU aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2018)

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