May zieht Notbremse und will Brexit nachverhandeln

People in a bar watch Britain´s Prime Minister Theresa May during a debate in the house of Commons on television as a window is illustrated with DUP leader Arlene Foster as Santa Claus and Theresa May as a Christmas Elf in Lisburn
People in a bar watch Britain´s Prime Minister Theresa May during a debate in the house of Commons on television as a window is illustrated with DUP leader Arlene Foster as Santa Claus and Theresa May as a Christmas Elf in Lisburn(c) REUTERS (Clodagh Kilcoyne)
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Die britische Premierministerin verschiebt die Brexit-Abstimmung und will eine neue Konzession von der EU zu Nordirland erreichen. Mehr als eine politische Präzisierung wird sie allerdings kaum bekommen.

Die britische Regierung hat die Unterhaus-Abstimmung über das EU-Austrittsabkommens in letzter Sekunde verschoben. Angesichts eines überwältigenden Widerstands, der eine vernichtende Niederlage unausweichlich erscheinen ließ, trat Premierministerin Theresa May Montagnachmittag vor das Unterhaus in London und erklärte: „Ich habe sehr genau zugehört.“ Und dabei verstanden, dass es für das „vorliegende Abkommen keine Mehrheit“ gebe. Sie werde nun auf dem EU-Gipfel in Brüssel Ende der Woche neue Gespräche suchen, „um unsere Sorgen zur Sprache zu bringen“. Zugleich halte sie aber an ihrem Deal fest und erteile allen Alternativen sowie einer neuen Volksabstimmung eine klare Absage: „Dies würde das Land erneut spalten.“

In einer Reaktion erwiderte EU-Ratspräsident Donald Tusk: „Wir werden keine Neuverhandlungen des Deals führen.“ Er fügte aber hinzu: Man sei „bereit, darüber zu sprechen“, wie man die Ratifikation des Deals in Großbritannien erleichtern könne. Der Direktor des Thinktanks „Centre for European Reform“, Charles Grant, kommentierte: „Vielmehr als ein paar kosmetische Veränderungen wird May nicht bekommen. Die Substanz des irischen Backstops bleibt unverändert.“

Genau diese Frage will die Premierminister noch einmal aufrollen, nachdem sie in der vergangenen Zeit zu nationalen Eruptionen geführt hatte. Die Auffanglösung (Backstop) für Nordirland soll in Kraft treten, falls sich London und Brüssel bis Ende 2020 auf kein umfassendes Handelsabkommen einigen können. Sie sieht einen Verbleib in der EU-Zollunion vor. Brexit-Hardliner lehnen diese Regelung ab, zu ihren Forderungen zählt eine Befristung oder eine einseitige Ausstiegsmöglichkeit Großbritanniens. Zu den schärfsten Gegnern der Vereinbarung zählt ausgerechnet die nordirische DUP, die bisher im Parlament die Rolle eines Mehrheitsbeschaffers für die konservative Minderheitsregierung übernommen hatte. DUP-Chefin Arlene Foster forderte gestern nach einem Gespräch mit May ultimativ: „Der Backstop muss weg.“

Kein Misstrauensantrag, vorerst

Mit der Verschiebung der Abstimmung konnte May eine möglicherweise politische irreparable Niederlage vermeiden. Vorerst. Denn ihr Verbleib im Amt hängt weiter an einem seidenen Faden. Der konservative Brexit-Wortführer Jacob Rees-Mogg erklärte: „Wer nicht regieren kann, muss gehen.“ Sein Gesinnungsgenosse, Ex-Außenminister Boris Johnson, folgte Mays Ausführungen mit steierner Miene.

Auf der entgegengesetzen Seite des politischen Spektrums sprach der Chef der oppositionellen Labour Party, Jeremy Corbyn, von einem „verzweifelten Schritt“, der beweise, „dass wir keine funktionsfähige Regierung mehr haben“. Die schottischen Nationalisten sahen einen „lächerlichen Akt der Feigheit“ und sagten Labour Unterstützung zu. „Wie wärs mit uns?“, lockte die schottische Regierungschefin, Nicola Sturgeon, auf Twitter.

Nachdem 50 Labour-Abgeordnete eine Petition für einen sofortigen Misstrauensantrag unterschrieben hatten, musste die Labour-Führung die Notbremse zu ziehen. Ehe nicht ein neuer EU-Deal vorliege, werde man keinen entsprechenden Antrag einbringen, stellte die Partei klar. Bei aller Kampfrhetorik der Opposition und allem Autoritätsverlust der Premierministerin wollten selbst militante Gegner des Brexit-Deals unter den Konservativen und der DUP im Zweifelsfall für May stimmen, um Corbyn zu verhindern. „Wir haben nur einen Schuss“, räumte ein Labour-Stratege ein.

Pfund im freien Fall

Auch auf juristischer Ebene ging das Brexit-Drama in die nächste Runde. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass Großbritannien einseitig den Austrittsantrag zurückziehen und den Brexit damit rückgängig machen könne. Das britische Höchstgericht wiederum lehnte eine Klage gegen das Ergebnis des Referendums von 2016 wegen Überschreitung der Ausgabenobergrenze durch das Austrittslager ab.

Unklarheit herrschte zunächst über das neue Datum für eine Entscheidung des Abgeordnetenhauses. May ließ sich alle Optionen offen: „Das hängt vom Ergebnis der neuen Verhandlungen ab“, erklärte sie. Auch eine Vertagung ins nächste Jahr wurde offen erwogen. Das Klima der Unsicherheit schlug voll auf die Märkte durch. Die Chefin des Industrieverbands CBI, Carolyn Fairbairn: „Das ist ein weiterer Schlag für die Wirtschaft, die verzweifelt Klarheit braucht.“ Während die Abgeordneten debattierten, konnte man den Fall des Pfunds mit freiem Auge mitverfolgen. Schließlich lag es die britische Währung auf dem tiefsten Stand seit 20 Monaten. 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2018)

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